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Unziemliches Verhalten. Rebecca SolnitЧитать онлайн книгу.

Unziemliches Verhalten - Rebecca Solnit


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worden waren. Es gab noch weitere schwarze Kirchen im diesem kleinen Viertel. Man war nie sehr weit von der Frömmigkeit entfernt.

      Eine schöne, in reinem Weiß gestrichene Villa beherbergte das Brahma Kumaris Meditation Center, und als einige Jahre später Aids zur weltweiten Geißel wurde, eröffneten Mutter Teresas Missionarinnen der Nächstenliebe ein Aids-Hospiz in einem großen viktorianischen Holzhaus gegenüber von meiner Wohnung; die Nonnen in ihren dünnen weißen Baumwollsaris mit den blauen Streifen wurden ein vertrauter Anblick in der Nachbarschaft. Ein paarmal erschien Mutter Teresa auch persönlich, und die Nonnen zeigten mir einmal ein Foto von ihr, auf dem sie vor unserem in arabischem Besitz befindlichen und von Schwarzen geführten Spirituosenladen stand. In östlicher Richtung gab es ein islamisches Zentrum, in westlicher eine jesuitische Universität, am nördlichen Rand katholische und Episkopalkirchen und auf der Divisadero Street im Südosten, knapp außerhalb des Viertels, die St. John Coltrane African Orthodox Church mit ihren Jazzmessen, der Armentafel und den großen russisch-orthodox anmutenden Gemälden von schwarzen Erzengeln.

      Womit ich sagen will, dass ich in einem kleinen Viertel von großer und vielfältiger Spiritualität wohnte, in dem hingebungsvoll der Himmel und verschiedene Versionen von Gott angerufen wurden. In meinen ersten Jahren dort gingen die Leute zu Fuß zu ihren kleinen Kirchen, prächtig herausgeputzt, die Männer und Jungen trugen Anzüge in den verschiedensten Farben, die Frauen und Mädchen Kleider, die älteren Frauen dazu oft Kopfbedeckungen aus Satin, Tüll oder Samt, der gefaltet, gerafft, gerüscht, beschleiert, mit Stoffblumen, Federn oder Schmucksteinen verziert war. Das Viertel war auf eine Weise lebendig, die die Vororte, in denen ich aufgewachsen war, tot und entleert erscheinen ließ, jene Wohngebiete, deren räumliche und gedankliche Konzeption den Rückzug aus dem öffentlichen Raum und ein Minimum an zwischenmenschlichem Kontakt vorsah; in denen die Erwachsenen nur im Auto unterwegs waren, die Leute für sich blieben und die Zäune unsere Köpfe überragten.

      Manchmal sah ich aus meinen Erkerfenstern auf die Kirchgänger*innen hinunter, die in verschiedene Richtungen schlenderten, manchmal schlenderte ich auch selbst durch das Gewühl von Menschen, die einander vor oder nach dem Gottesdienst begrüßten. Die Nachbarschaft war von quirligem Leben erfüllt in jenen Tagen, als die Gläubigen zu Fuß zu ihren jeweiligen Gebetshäusern und danach wieder nach Hause gingen, durch Gruppen anderer Gläubiger hindurch, die in andere Richtungen unterwegs waren. Den Kirchen gehörten ihre Gebäude, deshalb blieben sie, wo sie waren, ihre Gemeindemitglieder hingegen wohnten meist zur Miete, und im Laufe der Zeit zogen immer mehr von ihnen weg, sodass es auf den Straßen nicht mehr so lebendig zuging. Statt der festlichen Betriebsamkeit auf den Gehwegen waren diese nun von zweireihig geparkten Autos gesäumt. Und dann verschwanden allmählich auch die Gotteshäuser, aber das war lange nach der Zeit, als ich das Viertel und seine Bewohner kennenlernte.

      Die älteren Leute dort waren während der großen Wanderungsbewegung von Schwarzen aus den Südstaaten hierhergekommen, und ihre Lebensweise in diesem Viertel war mindestens genauso sehr von den Südstaaten und einem kleinstädtischen oder ländlichen Leben geprägt wie von der Vitalität der Großstadt. Wenn ich ihre Geschichten hörte, spürte ich schemenhaft die Gegenwart jener anderen Orte, die in ihren Erinnerungen, ihren Lebenswegen, ihren Verhaltensmustern lebendig blieben. Die schwarze Bevölkerung von San Francisco hatte sich in den vierziger Jahren fast verzehnfacht, und die Neuankömmlinge hatten sich an zwei Orten konzentriert, zum einen in dieser Gegend nicht weit vom geographischen Mittelpunkt der Stadt, zum anderen in Hunter’s Point im äußersten Südosten, wo die Werften Arbeit boten.

      Diese älteren Leute hatten es nicht eilig, darin blieben sie Landmenschen. Sie schauten, wer des Weges kam, grüßten, wen sie kannten, riefen auch mal einem Kind etwas zu, das sich danebennahm. Von ihnen lernte ich, dass eine Plauderei, auch mit Unbekannten, ein Geschenk sein kann, sogar eine unterhaltsame Herausforderung, eine Gelegenheit für Herzlichkeit, Neckereien, gute Wünsche, Humor, ich lernte, dass gesprochene Worte ein kleines Feuer sein können, an dem man sich wärmen kann. Als ich viele Jahre später etwas Zeit in New Orleans und an anderen Orten der Südstaaten verbrachte, fühlte ich mich dort auf eine verblüffende Weise zu Hause, und mir wurde klar, dass dieses kleine Stück Westcoast damals ein Außenposten der schwarzen Südstaaten gewesen war.

      2

      Mr. Young war im ländlichen Oklahoma aufgewachsen, und Mr. Ernest P. Teal, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte, aber in einer der Garagen bei uns im Haus einen langen, luxuriösen Wagen aus den Siebzigern stehen hatte, stammte aus Texas. Mr. Teal war stets elegant gekleidet, trug Variationen von Sakko mit Filzhut, oft Tweed und andere Stoffe mit Textur. Er war ein stilbewusster Mann, der mir Geschichten über die Blütezeit des Jazz im Fillmore District erzählte, und zugleich war er ein frommer Mensch, der eine ungemeine Güte und Herzlichkeit ausstrahlte, der lebende Beweis, dass Coolness und Wärme kein Widerspruch sein müssen.

      Um die Ecke wohnte Mrs. Veobie Moss, in einem Haus, das ihre Schwester mit den Ersparnissen aus ihrer Arbeit als Hausangestellte gekauft und ihr vererbt hatte. Als Mrs. Moss alt und vergesslich wurde, saß sie oft auf ihren hölzernen Türstufen mit Blick nach Süden, und wenn ich stehen blieb, um mit ihr zu plaudern, erzählte sie mir gern von der Obstplantage in Georgia, auf der sie aufgewachsen war, und den wunderschönen Obstbäumen dort. Es war, als säße sie auf ihrer Treppe an zwei Orten und zu zwei Zeiten zugleich, sie beschwor in unseren Unterhaltungen ihre verlorengegangene Welt herauf, bis wir beide im Schatten ihrer geliebten Obstbäume saßen. Manchmal stellte ich mir nachts vor, dass all die alten Leute, die in den Häusern ringsum schliefen, gerade von den Orten ihrer Herkunft träumten und die Phantome jener Felder und Obstgärten, Schotterstraßen und flachen Horizonte in unseren nächtlichen Straßen schimmerten.

      Mr. Young hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und der Krieg war es auch gewesen, der ihn seinem ländlichen Umfeld entrissen und hierhergebracht hatte. Seiner Militärakte zufolge war er Farmarbeiter und ledig, als er mit zweiundzwanzig Jahren in Choctaw County, Oklahoma, eingezogen wurde. Er war bei der Army geblieben, hatte lang genug gedient, um eine Pension zu beziehen. Er sagte mir, er sei einer jener schwarzen Soldaten gewesen, an denen man Giftgas testete. Er sprach von einer Lagerhalle oder einem Hangar voller Gas, durch das die Männer ohne Gasmasken hindurchrennen mussten. Einige seien dabei umgekommen.

      Er fuhr einen großen braunen Pick-up mit Wohnkabine, der in der Garage gleich links neben unserem Hauseingang geparkt war. Oft stand er in der Garagentür, an den Torpfosten oder seinen Pick-up gelehnt, grüßte Passanten, plauderte mit dem einen oder der anderen, wies ein Kind zurecht, das Unfug trieb; im Sommer fuhr er häufig nach Vallejo, um eine Ladung Melonen zu besorgen, die er dann bei uns verkaufte. Manchmal erhaschte ich einen Blick auf eine Pistole, die er seitlich in seiner Latzhose stecken hatte. Er rauchte Pfeife, und der Geruch des süßen Tabaks stieg manchmal durch die Lüftungsschlitze in meine Küche auf, die über seinem Schlafzimmer lag. Wenn ich ihm begegnete, unterhielten wir uns immer ein bisschen oder tauschten zumindest ein paar Nettigkeiten aus, weshalb ich mich, wenn ich es eilig hatte, regelrecht davor fürchtete, ihm im Flur zu begegnen, denn alles unter fünf Minuten Plauderei erschien mir unhöflich.

      Er erzählte mir, wie es gewesen war, im Südosten von Oklahoma als Sohn kleiner Farmpächter aufzuwachsen. Die Geschichte, an die ich mich am besten erinnere, handelte davon, wie er und seine Eltern in seiner frühen Jugend einmal vom Feld kamen und zu Hause die Barrow Gang vorfanden – Bonnie und Clyde und ihre Kumpane. Die Bankräuberbande war bei ihnen, weil in einer Gesellschaft, in der Rassentrennung herrschte, kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, weiße Banditen bei einer schwarzen Familie zu suchen. Offenbar schlüpfte die Bande noch bei mindestens einer weiteren Farmpächterfamilie in Oklahoma unter, und später hörte ich, dass sich auch Pretty Boy Floyd, ein anderer legendärer Gangster jener Zeit, in der Bankräuber als eine Art Volkshelden galten, bei Schwarzen versteckte. Die Barrow Gang hinterließ eine Zehn-Dollar-Goldmünze bei den Youngs, sie lag auf dem Tisch, oder vielleicht war es die Anrichte. Die Mutter wollte kein gestohlenes Geld annehmen, aber der Vater sagte: »Die Kinder brauchen Schuhe für den Winter.« Die Bande kam zweimal, und einmal saßen sie am Tisch und aßen, als die Familie heimkam.

      So viele Jahre nachdem ich diese Geschichte erzählt bekam, sehe ich immer noch das Bild vor mir, das in meinem Kopf entstand, während ich Mr. Young zuhörte,


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