Es waren Habichte in der Luft. Siegfried LenzЧитать онлайн книгу.
uns anfangen?«
»Ja.«
»Das ist gut. Arbeit haben wir fast zuviel.«
Sie gingen über den leeren Marktplatz. Vor dem Gefängnis standen in Gruppen Kinder herum, die auf die kleinen, vergitterten Fenster zeigten und lachten. Ein blonder Halbwüchsiger ging mit ausgestopfter Brust, die Hände auf dem Rücken, zwischen den Gruppen herum und stellte jäh an Einzelne – nach Art der Lehrer – Fragen. Wenn die Antwort nicht sofort erfolgte, zielte er auf den Befragten mit dem Zeigefinger und rief etwas, woraufhin alle Kinder in Lachen und Schreien ausbrachen und dann zu den kleinen Fenstern hinübersahen, in der Hoffnung, man habe diesen Spaß verstanden.
Der Angehörige der Volksmiliz vor dem Eingang trug sein Gewehr mit dem Lauf nach unten. Bei jedem Atemzug knarrte sein breiter, lederner Hüftriemen. Mittags, während seiner ersten Wache, hatte er über das Treiben gelacht. Jetzt beachtete er sie kaum. Es waren immer die gleichen Witze.
Ein einsamer Lastwagen rumpelte über den Marktplatz und hielt vor dem Gefängnistor. Der Posten drückte auf einen an der Mauer angebrachten Klingelknopf, und ganz von ferne hörte man das metallische Gerassel des elektrischen Klöpfels, einen hämmernden, warnenden Aufschrei. Zwei Männer mit breiten, schmutzigen Lederschürzen erschienen und öffneten die Flanke des Autos. Sie luden sich riesige, frische Fleischstücke auf die Schultern und trugen sie ins Gefängnis: halbe Schweine, Ochsenschenkel, blutige Bauchlappen und Rippen. Der warme Geruch des Fleisches stieg in die Luft und breitete sich allmählich aus.
Die Sonne verbarg sich immer mehr hinter den Kiefern. Ein junger, frohgemuter, lyrischer Frühling lag über Finnland, der mit nordischer Plötzlichkeit dahergekommen war und sich zu einem lauen Tyrannen aufgeworfen hatte über milchweiße Schenkel und Brüste, über verschlossene Herzen, über sprachlose Blumen und Gräser, zum Tyrannen vornehmlich auch über die jungen Männer und Mädchen und die klopfenden, atemlosen Leidenschaften des Fleisches und des Geistes. Die Fröste, die das Blut dick machen, waren verjagt. Der Sprungfreudige hatte ihnen sehr zugesetzt: der Frühling hatte den Frösten die Peitschen entwunden, mit denen sie das Fleisch zügeln.
Erkki führte seinen Begleiter zu einem zweistöckigen, trübselig dreinschauenden Haus. Auf der rechten Seite vor dem Eingang befand sich ein Schaufenster und dahinter standen in Tontöpfen und Metallkübeln, seltsam angeordnet, zum Teil gesunde, zum Teil aber auch sehr angekränkelte Blumen: Waldtulpen mit unvollständigen Hüllen, behäbige, feiste Trollblumen, Leberblümchen, Schwertlilien, die aus dem Regenbogen entsprungen sein sollen, gezähnter Klatschmohn, große Blüten der Pfingstrose, deren Wert eine chinesische Chronik mit »Hundert Unzen puren Goldes« angibt, und dann und wann erblickte man den pfeilförmig-erotischen Aronstab.
Mit unheimlich knarrendem Geschrei flogen große Vögel über den Marktplatz, den Kiefern zu.
»Komm«, sagte Erkki, »wir wollen hinaufgehen. Wir werden uns das Zimmer teilen müssen, denn es gibt keine andere Möglichkeit, dich hier unterzubringen. Leo wird hoffentlich bald zurückkommen, der elende Geizhals.«
Sie betraten einen unebenen, mit rotgebrannten Steinen ausgelegten Flur. Es roch hier sehr merkwürdig; das Alter des Hauses, die Blumen, ein grünlicher Spiegel und die weiche, schwarze Topferde schienen sich im Geruch zusammenzufinden. Eine ächzende Treppe führte hinauf in das obere Stockwerk. Irgendwoher kam sogar auf unerklärliche Weise etwas Licht, das dem Auge half, einen Weg zu finden.
»Halte dich am Geländer fest«, sagte Erkki und stieg dann selber rasch die Treppe hinauf. Als sie oben standen, rief plötzlich eine Frauenstimme:
»Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Ich bin gleich da. Nur einen Augenblick. Ich komme ja schon. So.«
Eine Frau in mittleren Jahren mit breiten, fetten Hüften und nackten Knöcheln stand vor ihnen. Sie trug einen ärmellosen Kattunkittel, der – wie man bemerken konnte – in Eile über den Körper gezogen war. Ihre Füße steckten in ausgetretenen Pantoffeln.
»Ach, du bist es, Erkki«, gurrte sie. »Ich wollte gerade zu Bett gehen.« Sie schob ihren Leib vor und strich sich das Haar nach hinten. »Du hast ja jemanden mitgebracht?«
»Ja«, sagte Erkki, »das ist …«
»Ich heiße Stenka«, sagte der Mann mit dem Pappkarton. Erkki hatte das Gefühl, daß sein Begleiter log. Sein Gedächtnis begann wieder zu arbeiten, aber er konnte nicht herausfinden, wann er diesem Mann bereits begegnet war.
»Ist das dein Freund?« fragte die Frau.
»Wenn du willst, ja. Er wird uns außerdem bei der Arbeit helfen. Er versteht etwas von Blumen.«
»Hat er schon mit Leo gesprochen?«
Erkki antwortete der Frau nicht mehr, er hatte die Tür zu seinem Raum geöffnet und zog den Russen am Ärmel zu sich herein. Der Raum war fast kahl. Auf einem nur zur Hälfte in die Wand eingeschlagenen riesigen Nagel lehnte ein Spiegelscherben. An der Innenseite der Tür hing offenbar Erkkis Arbeitszeug, eine zerrissene Hose und eine in den Nähten geplatzte und an manchen Stellen glänzende Jacke. Unter dem Fenster stand ein aus Kisten zusammengenageltes Bett, am Fußende ein kleiner Klapptisch mit eisernem Gestell. Eine umgekippte Kiste diente als Sitzgelegenheit, eine andere als Waschtisch.
Stenka wollte etwas sagen, aber Erkki deutete ihm durch ein Zeichen an, vorläufig nicht zu sprechen. Leise, so daß der Russe Mühe hatte, ihn zu verstehen, erklärte er:
»Puh, dieses verdammte Weib! Immer wenn ich an ihrer Tür vorüberkomme, fragt sie: Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Und dann taucht sie in ihrem sparsamen Kittel auf und kichert: Ach, du bist es. Ich wollte gerade zu Bett. – Ich habe sie eigentlich nur in Erinnerung, daß sie gerade ins Bett will, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie ist Witwe. Früher einmal war sie Leos Geliebte. Jetzt duldet er sie nur noch. Puh! Sie hat es schon seit langem auf mich abgesehen. – Denkste! – Sie wird es auch bei dir versuchen. – Na, deinen Karton können wir einstweilen da unter den Tisch stellen.«
Erkki setzte sich auf das Bett und zog die Knie an. Stenka nahm ein Ohrläppchen zwischen seine Finger, die schrägstehenden Augen blickten über den Garten. Er wagte nicht, seinen neuen Gefährten nach Matowski zu fragen, dem dieser Garten einst gehört hatte. Er war froh, einen Menschen wie Erkki gefunden zu haben, der ihm freimütig Aufklärung gab über alles, was er noch nicht einmal zu wissen begehrte, und der es sich offenbar angelegen sein ließ, den zukünftigen Arbeitskollegen in jeder Hinsicht ins Vertrauen zu ziehen.
»Bist du eigentlich verheiratet?« fragte Erkki nach einer Weile.
»Nein, warum fragst du mich danach?«
»Ich dachte, du könntest mir etwas über die Frauen erzählen. Ich kenne nämlich ein Mädchen, weißt du: fleißig, ernst, braune Augen …«
»Wann beginnt ihr am Morgen mit der Gartenarbeit?« unterbrach ihn Stenka.
»Sehr früh. Zu früh vielleicht. Um fünf. Es kann dir passieren, daß du einen schönen Traum hast, daß du mit einem Mädchen irgendwo allein bist – und wenn du vielleicht gerade die Hände nach ihr ausstreckst –, dann rütteln dich riesengroße Finger an der Schulter, rütteln, daß du meinst, alle Knochen würden dir brechen, und dazu schreit dir eine Stimme ins Ohr: Raus, du Angorabulle, wie lange willst du noch schlafen?! Ausgebrummt, alte Nähmaschine! – Weißt du, wer so schreit?«
»Nein.«
»Leo, der alte Geizhals. – Aber, ich kenne ein Mädchen, weißt du, fleißig, ernst, lange glatte Beine. Es war ein prächtiges Mädchen, als wir noch die alte Regierung hatten. Wir wollten damals heiraten. Nun haben wir einen neuen Bürgermeister …«
»Wie heißt der neue Bürgermeister?«
»Wir nennen ihn den Grauen. Wir nennen ihn so, weil er ständig eine graue Hose und eine graue Jacke trägt, und weil sein glattrasierter Schädel grau aussieht.«
»Hm. Arbeitet das Mädchen jetzt für die neue Regierung?«
»Ja. Man hat ihr etwas in den Kopf gesetzt. Seitdem lebt sie nur noch