Ende offen. Peter StraußЧитать онлайн книгу.
Veröffentlichung nicht mehr erpressbar. Ich kann mir vorstellen, dass wir als Einzelpersonen in fünfhundert Jahren keine Geheimnisse mehr haben werden, weil jedem klar ist, dass Menschen selbstverständlich unterschiedlich sind und dass persönliche Eigenarten akzeptiert werden müssen. Erpressbarkeit beruht darauf, dass jemand etwas über eine Person weiß, das dieser bei Bekanntwerden zwischenmenschliche Komplikationen, Rufschädigung oder juristische Verfolgung bescheren würde. Das setzt die Idee voraus, dass Verhalten in Richtig und Falsch eingeteilt wird. Wenn man dabei Verstöße gegen Strafrecht ausklammert, beruht dies in erster Linie auf Intoleranz: Man kann jemanden mit Nacktfotos aus seiner Jugend erpressen, obwohl dies wenig mit Beeinträchtigung anderer Menschen zu tun hat, sondern in erster Linie mit der Vorstellung, es gebe objektiv richtige und falsche Verhaltensweisen. Je freier wir werden, desto weniger Bedeutung werden solche Informationen haben.
Technisches Wissen ist Macht
Exklusive Nutzungsrechte von Wissen (Patente, Urheberrechte) sind exklusive Nutzungsrechte in Bezug auf Macht. Diese Macht wäre dahin, wenn alles Wissen öffentlich wäre. Patente sind ursprünglich dafür gedacht, eine Vergütungsmöglichkeit für den Aufwand neuer Entwicklungen zu schaffen. Wer sein hart erarbeitetes Wissen nicht verkaufen kann, hat weniger Anreiz, etwas zu entwickeln, weil er am Ende möglicherweise auf den Kosten sitzenbleibt. Auf der anderen Seite werden Patente zunehmend dazu verwendet, Veränderung zu verhindern. Viele Firmen besitzen Patente über neue, innovative Technologien nur noch zur Festigung ihrer Marktmacht. Das hat mit dem ursprünglichen Gedanken wenig zu tun. Sie können damit andere vom Markt auszuschließen, ihre alten Anlagen weiter betreiben und sind nicht zur Anwendung einer neuen Technologie (mit hohem Kostenaufwand) gezwungen. Beispielsweise hat die Erdölindustrie ein großes Interesse daran, dass sich alternative Methoden zur Energieerzeugung nicht zu schnell verbreiten, damit sie ihre Milliarden Euro teuren Raffinerien weiter betreiben können, solange sie rentabel arbeiten. Dass im ursprünglichen Sinne Patente gehandelt werden und ein Unternehmen die Lizenz von einem anderen erwirbt, um das patentierte Produkt zu produzieren, wird mittlerweile zur Ausnahme.
Derzeit werden viele Erkenntnisse von konkurrierenden Personen oder Unternehmen parallel entwickelt. Der Nachteil des mehrfachen Aufwandes wird in Kauf genommen, weil angenommen wird, dass die Entwicklung zum Erliegen kommt, wenn keine Konkurrenz mehr herrscht. Ich kann mir hingegen auch vorstellen, dass Unternehmen in fünfhundert Jahren auf neue Art zusammenarbeiten werden, weil es sinnlos und verschwenderisch ist, wenn jede neue Technologie von mehreren konkurrierenden Unternehmen parallel entwickelt wird. Der Wissensaustausch ist eine Grundlage unserer schnellen Entwicklung seit der neolithischen Revolution. Wenn die Verteilung von Wissen und die darüber erfolgende Verbreitung von Qualifikation so entscheidend sind, bedeutet jede unterlassene Weitergabe von Wissen einen Verlust für die Entwicklung der Menschheit. Das gilt auch für jede Geheimhaltung von Wissen – unabhängig davon, welche Gründe es für die Geheimhaltung gibt. Was geheimgehalten wird, verzögert die Weiterentwicklung der Menschheit. In diesem Sinne trägt jedes Horten von Know-how zur Stabilisierung von Ungleichheiten bei, und die Weitergabe von Wissen trägt zu einer besseren Welt bei.
Macht wird langfristig immer missbraucht
Wenn ein Mensch Macht anhäuft, besteht ein hohes Risiko, dass er diese zum Nachteil der anderen nutzt. Die Risiken für den Machtmissbrauch sind folgende:
− Konrad Lorenz zufolge ist der Mensch mit einer hohen Aggressivität ausgestattet, die noch in einem akzeptablen Verhältnis zu seinen Körperwaffen (Fingernägeln, Zähnen usw.) und Kräften steht. Wer zu viel Macht hat, verletzt das Kräftegleichgewicht.
− Wer mehr Macht hat, trägt ein Risiko, Schaden an der Menschheit anzurichten. Seine Handlungen haben eine größere Tragweite als die anderer. Das bedeutet, dass er früher oder später aus Unachtsamkeit oder Unwissenheit Schaden anrichten wird. Nur wer trotz des Potentials zur Verbesserung der eigenen Lage altruistisch handelt, hat eine Chance, die Macht nicht zu missbrauchen. Im besten Fall wird also nur jemand, der die Macht nicht anstrebt, damit verantwortungsvoll umgehen, weil er am ehesten altruistisch handeln kann. Aber auch dieser Mensch ist nicht vor Irrtümern sicher.
− Je mehr Macht jemand hat, umso mehr kann er sie zu seinem persönlichen Vorteil nutzen. Wer mehr Macht besitzt, braucht bei Missbrauch derselben weniger Sanktionen zu fürchten.
− Der Mensch ist als ein in Gruppen lebendes, soziales Wesen nicht dafür gemacht, Macht zu haben. Die Vorteile der gemeinsamen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, die in letzter Zeit häufig erwähnte „Schwarmintelligenz“ wird durch Macht und Herrschaft verhindert.
− Am Beispiel der Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Prozess wurde klar: Macht einerseits und Kontrolle bzw. Vernetzung andererseits stellen zwei Gegenpole dar. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist unter anderem, rechtsextreme Entwicklungen aufzudecken. Um verdeckt ermitteln zu können, dürfen sich V-Männer im rechtlichen Grenzgebiet bewegen, solange sie nicht direkt an Straftaten beteiligt sind und nicht dazu anstiften. Der Verfassungsschutz agiert dabei relativ unabhängig. Im Fall des NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) führte das zu derartigen Verstrickungen zwischen Verfassungsschützern und Rechtsextremen, dass jetzt der Vorwurf im Raum steht, der Verfassungsschutz habe die rechtsextrem motivierte Mordserie erst ermöglicht. Selbst nach der Enttarnung des NSU wurde bei verschiedenen Behörden eine große Zahl von Akten vernichtet, die möglicherweise unzulässige Aktivitäten des Verfassungsschutzes hätten belegen können. Ob Macht missbraucht wird, wird dadurch beeinflusst, wie stark diejenigen, die sie besitzen, mit der Gesellschaft vernetzt sind und wie sehr sie einer (staatlichen) Kontrolle unterworfen sind. Sind Vernetzung und Kontrolle zu gering, so entsteht Wildwuchs, und das System wird zum Selbstläufer, der unkontrolliert marodieren kann.
Rousseau sagte: „Nun ist in der Beziehung zwischen Mensch und Mensch das Schlimmste, was dem einen widerfahren kann, sich dem Belieben des anderen ausgesetzt zu sehen.“97 Je größer das Machtgefälle, desto wahrscheinlicher wird der Machtmissbrauch, weil die möglichen Sanktionen für den Inhaber der Macht geringer werden und gleichzeitig sein möglicher Vorteil auf Kosten anderer größer wird. Von Jean-Jacques Rousseau stammt auch der Satz: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.’“98
Normalerweise sind wir zu Mitgefühl mit anderen fähig, zu denen wir eine persönliche Beziehung haben oder die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie wir. Je größer aber die Unterschiede in Stellung, Vermögen oder Lebensweise werden, desto mehr schwindet diese Fähigkeit. Ganz gleich, ob die Macht des einen über den anderen durch physische, psychische oder finanzielle Überlegenheit zustande kommt – ist das Gefälle groß genug, so geht das Mitgefühl des Stärkeren für den Schwächeren verloren. Wie viel Mitgefühl haben wir gegenüber nervenden Fliegen oder Ameisen? Wie respektvoll begegnen wir einem uns intellektuell deutlich unterlegenen Menschen? Wir empfinden Dummheit meist als abstoßend, obwohl sie in den wenigsten Fällen selbstverschuldet ist.
Die kritische Masse für den Machtmissbrauch ist erreicht, wenn ein Staat, ein Unternehmen oder eine Einzelperson die Interessen anderer verletzen kann, ohne Gegenwehr fürchten zu müssen.99 Das gilt für die Macht eines Vergewaltigers über sein Opfer, von Metzgern über die zu schlachtenden Tiere, von Soldaten im Krieg gegenüber Besiegten und der Schulhofgang gegenüber dem Außenseiter. Und auch heute noch werden viele Kinder von ihren Eltern geschlagen – trotz eines mittlerweile gesetzlich verankerten Prügelverbots.
Heute werden Empfänger von Sozialleistungen und Flüchtlinge in die Rolle des Unterlegenen gedrängt: Sie haben wenig Macht, keine Fürsprecher und gelten gemeinhin als Versager. So erschafft man Sündenböcke und die Ohnmacht, die die Grundlage jeder Ausbeutung ist. Dasselbe gilt für die Häftlinge in Guantanamo und anderen nicht demokratisch kontrollierten Gefangenenlagern. Auch Näherinnen in Bangladesch, Arbeiter in Minen in Afrika und Südamerika und viele weitere Gruppen sind den europäischen Unternehmen, denen sie zuarbeiten, so stark unterlegen, dass sie sich nicht gegen Ausbeutung zur Wehr setzen können.
Jeder Händler kennt sie – Kunden, die es darauf anlegen, jeden noch so ungerechtfertigten Preisnachlass zu erhalten, wenn sie eine Chance wittern. Auch ich erlebe in meinem Beruf immer wieder Verhandlungspartner,