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Visionen des Fritz Piccolo und der Punkt über dem i. Otto W. BringerЧитать онлайн книгу.

Visionen des Fritz Piccolo und der Punkt über dem i - Otto W. Bringer


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Niederlassung in den USA wird es als Erster entdecken. Den CIA bitten, in Deutschland nach Spuren zu suchen.

      Oh Gottogott, was dann? Justus einen Kopf kleiner gemacht. Und ich? Fingerspuren würden mich verraten. Ziehe Gummihandschuhe über die Hand, alle zehn Finger. Streiche Pelikanol hauchdünn auf die Ränder. Drücke die aufgeklappte Briefmarke wieder zusammen. Achte darauf, dass die zwei Seiten deckungsgleich sind. Schiebe sie sehr vorsichtig ins offene Kuvert DIN C6. Verschließe es mit der Klappe. Hinein in DIN B6, in DIN C4 wie gehabt. Justus hält mir die lederne Mappe hin. Sodass alles, was rot ist, ineinander gelegt und die Klappe des Umschlages reingesteckt. Wie gehabt. Verschließt die Mappe mit dem Universalschlüssel. Wischt eventuelle Fingerabdrücke mit einem Staubtuch weg und geht. Seinem Chef die Mappe auf den Schreibtisch zu legen. Auftrag erfüllt. Diskretion gewahrt. Geheimnis gehütet.

      „Justus, ich denke, Du wirst den neuen Knirps von Deinem Chef bestimmt geschenkt bekommen. Als Prämie für Deine Zuverlässigkeit. Und einen Granat für einen Ring. Ich schlage vor, Du wirst mir beides in Deinem Testament vermachen. Er soll mich immer an diesen denkwürdigen 4. Februar 1986 erinnern.“

       Mittwoch, 16. März 1986.

      „Justus, holen Sie mir die blaue Mappe aus meinem Tresor. Wilhelmstraße 1. Erste Etage links. dritte Tür rechts. Hier ist der Generalschlüssel. Mit dem kommen Sie ins Haus, die Wohnung, den Tresor und öffnet die Mappe.“ Letzteres sagt er nur, um Justus, seinen Privatsekretär, auf die Probe zu stellen.

      „Nur die Null tippen und mit dem Generalschlüssel den Tresor öffnen. Sie wundern sich über meine Geheimnummer? Ganz einfach. Alle Leute zermartern sich das Gehirn, eine möglichst komplizierte Nummernfolge auszudenken. Ich bin, wie Sie wissen, versessen auf einfache Lösungen. Schwören Sie, dass Sie diese Nummer niemandem weitersagen. Die Mappe mir ungeöffnet übergeben. Sonst werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh.“ Winkt mir der Hand – „nun gehen Sie schon, ich muss nachdenken.“

      Jetzt wird es spannend, denke ich, als Justus mich nach gut fünf Wochen wieder besucht. Diesmal eine blaue Mappe unterm Arm. Was mag sie enthalten? Wieder blaue Umschläge? Kleinere im jeweils größeren? Oder russische Matuschkas, aus Lindenholz geschnitzte und bemalte, innen hohle Puppen. Große Augen sehen einen an, als sagten sie: liebe mich. Eine große, in die bis zu zwanzig und mehr jeweils kleinere gesteckt sind. Ein beliebtes Gastgeschenk. Die Idee: Mütterchen Russland schützt alle, die bei ihr Zuflucht suchen.

      Justus erinnert eine Reise mit seinem Chef nach Moskau. Geschäfte abzuschließen trotz großer politischer Divergenzen. Tranken Wodka flaschenweise. Unterschrieben den Vertrag unter dem Tisch, wo sie am Morgen gelandet. Ließen immer wieder hochleben Mütterchen Russland und Väterchen Fritz. Wunderten sich nicht, dass ihre Gläser dabei stets an die Tischplatte stießen. Das Hoch bei 70 Zentimeter sein natürliches Ende fand. Wieder nüchtern schenkten sie Fritz eine besonders schön bemalte Matuschka. In den Farben rot, blau, grün und gelb.

      Sie muss ihm die Idee mit farbigen Mappen eingegeben haben. Modifiziert auf seine Art. Das Prinzip übernommen und nicht die Figur. Damit kein Gerichtshof der Welt ihn verurteilen kann. Noch lange aber ist nicht jeder kleine Mann ein Pfiffikus. Was hat Fritz Piccolo sich jetzt bei Blau gedacht? Man sagt, er liebe den Umgang mit Adligen.

      Ob er selber ein verkappter Adliger ist. Der uneheliche Sohn des Herzogs von Mantua? Einer, der neben seiner Ehefrau Juliette eine Freundin in Paris hat. Eine in Avignon, eine in Nizza an der Côte dʼAzur. Schon immer suchten edle Herren Nebenfrauen. Ihre Ehefrauen heiratete man, weil ihre Mitgift Vermögen und Landbesitz vermehrten. Nicht aus Liebe. Fritz heiratete die Pariserin Juliette, um täglich inspiriert zu werden. Nicht unähnlich Friedrich II. von Staufen, dem berühmten Deutschen Kaiser im Mittelalter. Viermal verheiratet und etliche Nebenfrauen. Sogar einem Harem hielt er sich mit arabischen Vollblutweibern. Die schönste von ihnen inspirierte ihn, ein Buch über die Jagd mit Falken zu schreiben. Mit dem Sultan von Jerusalem Frieden zu schließen. Statt im Papstauftrag einen Kreuzzug vorzubereiten. «Castell del Monte» in Apulien zu bauen, das achteckige Status-Symbol eines Kaisers im Mittelalter. Orientiert an der achteckigen Grabeskirche in Jerusalem. Der Krönungskapelle Karls des Großen in Aachen. Wer weiß für welche Orgien des Geistes und ideal geformter Frauenkörper Friedrich sie genutzt. In den Pausen zwischen Auseinandersetzungen mit Päpsten und konkurrierenden Herzögen Europas.

      Monsieur Fritz eine Hoheit? Durchlaucht? Man müsste ihm eine Blutprobe entnehmen. Zu prüfen, ob seines eine blaue Färbung hat. In Richtung Türkis oder Enzian tendiert. Oder zur Kornblume des Alten Fritz. Dem kühlen Blau Heinrich VIII. von England. Oder ist gar eine Probe seines Blutes in der Tasche? Beweis für seine adelige Herkunft. Es sollen viele Betrüger unterwegs sein, wie Alessandro Cagliostro, der sich im 18. Jahrhundert reichen Frauen als Graf vorstellte. Unter dem Vorwand er liebe sie, ihr ganzes Vermögen ergaunerte.

      Justus legt mir die blaue Mappe auf den Tisch. „Beim ersten Mal hast Du das Rätsel gelöst, wäre selber auch dahinter gekommen. Denn logischerweise ergab sich eins aus dem anderen. Habe aber heute meinen großzügigen Tag und lass es Dich machen. Vielleicht brauchst Du die Pinzette noch mal von Deinem Barbier, um aus der letzten Hülle herauszuziehen, was uns auf den Nägeln brennt. Gehe davon aus, mein Chef hat sich wieder Originelles ausgedacht.“

      Dicker die blaue Mappe als die rote. Ähnelt meiner Kollegmappe, nur mit einer breiteren Lasche, aber sonst wie alle mit Reißverschluss an beiden Seiten. Das Blau ein wenig rötlich wie Ultramarin auf der Palette von «Yves Klein». Einem französischen Maler, der Frauen aufforderte, ihren nackten Körper mit ultramarinblauer Farbe anzuschmieren. Sich dann auf einer Leinwand am Boden zu wälzen, sodass sich neue Frauenakte formten, Blau auf Weiß. Abdrucke signiert bald schon begehrt von Museen, Liebhabern schöner Frauen und Freunden abstrakter Kunst.

      Auch dieses Leder blau gefärbt. Denn blauhäutige Rinder sind mir nicht bekannt. Auch keine blauweiß gestreiften Leoparden. Blaufuchs ja, aber bläulich schimmern nur die Haare seines Fells. Die Mappe aber glatt wie ein Kinderpopo. Es wird eingefärbtes Kalbsleder sein. Der Haut von erwachsenen Rindern sieht man ihr Alter an, runzelig wie bei alten Menschen. Manche finden es schön. Buchbinder verwenden es, um alte Bücher einzubinden. Sie zeigen schon von außen, dass den Leser uralte Weisheiten erwarten. Fritz Piccolo aber scheint junge Kälber zu lieben. Als Ragout mit Morcheln auf dem Teller. Ihre Haut auf allem, was Wichtiges schützt, wie Mappen mit Piccolos Visionen.

      Auch auf der blauen Mappe eine Lasche mit einem Schloss. Verzichte, die Mappe durchzuschütteln, auf den Boden zu werfen. Gewalt scheint Fritz nicht provozieren zu wollen. Oder soll ich doch?

      Schüttele sie kräftig her und hin, rauf und runter. Etwas rutscht verdächtig in ihrem Innen. Rollt hin und her, wie mir scheint. Lege sie vorsichtig auf den Tisch, lasse mir von Justus den Hauptschlüssel geben. Öffne das Schloss und reiße die seitlichen Reißverschlüsse auf. Alles vielleicht ein wenig zu heftig. Ein Glasröhrchen hatte sich aus seiner Kartonhalterung befreit und rollt, rollt, rollt, bis die hohe Innenkante der Mappe es bremst: stopp meine Liebste.

      Es ist eines der Röhrchen, wie bei Blutabnahmen üblich. Nur blau das Glas, nicht klar und zu erkennen, was drin ist. Mit einem Pfropfen fest verschlossen. Löse den Pfropfen und siehe da: ein zweites Röhrchen steckt darin. Ob es jetzt so weiter geht wie bei den roten Umschlägen? Halte das größere Röhrchen hoch, die Öffnung nach unten. Heraus rutscht das zweite Röhrchen. Auch blau und verstopft. Am oberen Rand schimmert es heller. Das Innen könnte weiß sein. Ein Papier oder Milch vom Schaf oder Ziege? Man spricht ja von Milch der frommen Denkungsart. Laut Schiller freundliche Gesinnung. Zitiert in Wilhelm Tell IV 3.

      Wir komme ich auf Schiller? Goethe könnte es sein mit den zwei Seelen in der Brust seines «Faust». Eine, die stets das Gute und eine, die das Böse will. Ob Johann Wolfgang sich selber gemeint? Als Protestant gebeichtet und gedacht, jetzt habe ich nur eine Seele, die reine der beiden. Ob in dem Gläschen irgendeines Menschen Seele verborgen? Die des Fritz Piccolo vielleicht? Man munkelt, er ließ sie nach jeder Beichte von seinem Pastor in ein Röhrchen legen. Das er in seine linke Westentasche stecke. Um vor sich selbst als guter Mensch da zu stehen. Im Kopf den Ausspruch Chilons von Sparta, eines der sieben antiken Weisen: «Gnóthi seautón» – erkenne dich selbst. Am Apollo-Tempel in Delphy in Stein gemeißelt. Gott Apollo soll,


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