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Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr. Timon KrauseЧитать онлайн книгу.

Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr - Timon Krause


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sieht. Dies herunterzuspielen wäre anmaßend und schlicht ungerecht. Und es mag weitere Ursachen für den fehlenden Antrieb Einzelner geben, sich mit den mittel- und unmittelbaren Problemfeldern unserer Zeit auseinanderzusetzen: Auf psychologischer Ebene wird gerne mit Verdrängungsmechanismen argumentiert, oder mit der Schwierigkeit, abstrakte Probleme, die über den eigenen Wahrnehmungshorizont hinausgehen – wie beispielsweise den Klimawandel –, als bedrohlich wahrzunehmen, selbst wenn die Nachrichten voll sind mit entsprechenden Katastrophenmeldungen. Nur eine Begründung kann in einer Informationsgesellschaft, wie sie sich in den entwickelten Ländern des globalen Nordens etabliert hat, nicht gelten: man habe „von all dem nichts gewusst“. In einer Zeit, in der die wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenhänge zwar immer komplexer, aber auch immer offensichtlicher werden, können wir Erwachsene, wir Berufstätige nicht ernsthaft behaupten, wir wüssten nichts von den Konsequenzen unserer heutigen Lebensweise. Und selbst wenn nicht alle Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsbzw. Konsumweise bei uns und Umweltzerstörung und gewaltsamer Ausbeutung in den abhängigen Ländern offen liegen, so sollten wir doch zumindest in unserem persönlichen Umfeld über die wesentlichen Aspekte einer dem Allgemeinwohl dienenden Lebensweise Bescheid wissen, über die wesentlichen Unterschiede zwischen der Fixierung auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und verantwortungsvollem Handeln, das den Bedürfnissen der Mitmenschen einen ähnlich hohen Stellenwert einräumt. Anschließend ist es nur ein kleiner Schritt, aus diesen Erkenntnissen Rückschlüsse zu ziehen, was unser meist kritikloses, unreflektiertes Konsumverhalten und die gesellschaftlichen und ökologischen Verwerfungen in den ärmeren Ländern des Globus betrifft.

      Ja, auch alle, denen die entsprechenden Informationen bislang fehlten, die mit Fug und Recht behaupten können, die wechselwirksamen Komplexe von Massenkonsum und Massenarmut oder stetigem Wirtschaftswachstum und fortschreitender Umweltzerstörung seien ihnen nicht geläufig, sie alle dürften im Alltag gelegentlich schon ein diffuses Gefühl verspürt haben, dass „etwas nicht in Ordnung“ ist. Das Bewusstsein, dass die Verhältnisse in vielen Bereichen nicht mehr stimmen: der Flug in den Urlaub billiger als die Zugfahrt zum Flughafen. Der Grammpreis für Tiefkühlhackfleisch günstiger als der der meisten regionalen Obst- und Gemüsesorten. T-Shirts sind bei einschlägigen Ketten zum Preis einer Pizza Margerita zu haben. Ein Terroranschlag im Nachbarland dominiert tagelang die Schlagzeilen, während die vor kurzem irgendwo erwähnte Kriegs- und Hungerkatastrophe in einem arabischen Land nirgends mehr genannt wird. Die Läden in den Innenstädten schließen, während die in der Regel skandalös unterbezahlten Paketboten vor der Haustüre mit Bergen von Kartons jonglieren. Ein unbefristetes Arbeitsverhältnis wird zunehmend zur Ausnahme, immer mehr Menschen arbeiten in einem oder mehreren Billigjobs, während zugleich die Kosten für Wohnraum explodieren. Der Eindruck, dass vieles aus den Fugen geraten ist, täuscht nicht. Es fehlt manchen wahrscheinlich nur die logische Schlussfolgerung: Wir alle sind Teil des Problems.

      Das erste Ziel, das wir Bürgerinnen und Bürger einer reichen Industrienation uns daher auf die Fahnen schreiben müssen, ist schonungslose Ehrlichkeit. Runter mit den Masken! Weg mit der Heuchelei, mit den aufschiebenden Entschuldigungen, die uns von einem Tag zum nächsten helfen und das Gewissen beruhigen sollen. Wir sind es, die mit dem Konsum von Millionen von Produktionsgütern den großen globalen Betrieb am Laufen halten, unter dessen Räder viele Menschen außerhalb unseres Sichtfeldes geraten.7 Wir sind es, die über Jahrzehnte hinweg mit schmutzigen Energieträgern unser wirtschaftliches Wachstum angetrieben und zahlreiche natürliche Lebensräume unwiederbringlich zerstört haben. Wir sind es, die ihr Geld einer Finanzbranche anvertrauen, die in weiten Teilen vor allem der Selbstbereicherung Weniger dient und durch „pragmatische“ Investitionen in volkswirtschaftlich sinnlose Unternehmensrestrukturierungen, fossile und nukleare Energieträger, Rüstungsunternehmen oder durch Spekulationen mit Nahrungsmitteln das Leben vieler Menschen zur Hölle macht. Wir sind es, die, obwohl die Zusammenhänge zwischen Fleischproduktion und Klimawandel regelmäßig in den Nachrichten nachzulesen sind, einfach nicht auf das günstige Steak aus dem Supermarkt verzichten wollen, wir, die der Abhängigkeit vom Erdöl einfach nicht entkommen können, egal ob es um Plastikverpackungen, Sprit fürs Auto oder den Flug in den nächsten Kurzurlaub geht. Wir sind eingebunden in Strukturen der Ungerechtigkeit und der Umweltzerstörung – doch sind wir ihnen wirklich ausgeliefert, hilflos, ohne Alternativen?

      Zur schonungslosen Ehrlichkeit gehört eine Einsicht, die so simpel ist, dass jedes Kind sie versteht: Nichts ist umsonst, und alles hat Konsequenzen. Für die günstige Kleidung bei Primark zahlt in der Wertschöpfungskette irgendjemand drauf, und zwar höchstwahrscheinlich die unter miesen Bedingungen schuftende Näherin in einem Land des globalen Südens – sowie die Natur ihrer Heimat, die mit den chemischen Produktionsausstößen belastet wird, weil die laxen Umweltschutzvorschriften dort eine viel günstigere Produktion ermöglichen als bei uns.8 Für das günstige Stück Schweinefleisch zahlt das bei vollem Bewusstsein kastrierte und in elender Massenhaltung vegetierende Tier sowie die mit überschüssigem Tierdünger durchtränkten Felder unseres Landes (und aufgrund des so belasteten Grundwassers wir selbst), für das billige Rindersteak das Weltklima (und damit auch wir), wenn für die Massenproduktion der für den CO2-Abbau unersetzliche Regenwald Südamerikas gerodet wird und die riesigen Herden die Atmosphäre mit Methan verseuchen. Für eine maximale Rendite unserer Kapitalanlage zahlen wir selbst die Zeche: wenn wir unser Geld ohne kritische Prüfung einem Großinvestor anvertrauen, der in dem Aktienunternehmen, dem wir unsere Arbeitskraft verkaufen, die Bedingungen für uns Arbeitnehmer verschlechtert um mehr Profit abschöpfen zu können, oder der unser Geld in große Immobiliengesellschaften investiert, die aus der Wohneinheit, in der wir leben, noch den letzten Cent herausquetschen will, durch Mietsteigerungen und Investitionsstopp. Und wenn unsere Altersvorsorge auf Fonds fußt, die ein breit gestreutes Portfolio nutzen, haben wir selbst finanziell Anteil an Firmen, die Waffen produzieren und diese auch in Bürgerkriegsländer wie den Jemen liefern, wo abertausende Kinder hungern und getötet und verstümmelt werden. Ja, es kann einem zunächst schwindelig werden, die Konsequenzen zu bedenken, die jede unserer Konsumentscheidungen mit sich bringt. Aber es ist unumgänglich, die Masken der Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit abzulegen und sich den teilweise harten Realitäten zu stellen, die mit unserer komfortablen Lebensweise einhergehen. Manch einer mag sich beklagen, für diese Zusammenhänge ja nichts zu können, sich das Leben in unserer heutigen, so komplex verflochtenen Gesellschaft nicht ausgesucht zu haben. Was bleibt da anderes als zu antworten: Verglichen mit der Lage, in die ein Großteil der Weltbevölkerung hineingeboren wird, also all jener, die in den ärmeren Ländern des globalen Südens unter den negativen Auswirkungen des alles umfassenden kapitalistischen Systems leiden müssen, ist diese unsere Bürde ja doch vergleichsweise gering.

      Was folgen muss, ist klar: wachsende Bewusstheit und wachsendes Verantwortungsbewusstsein. Niemandem ist mit moralischer Selbstgeißelung gedient, ebenso wenig wie mit unreflektiertem Reaktionismus (verantwortungsbewusst zu konsumieren ist effektvoller als radikale Entsagung, doch dazu später mehr). Wir sollten uns ja nicht nur der zunächst deprimierenden Einsicht öffnen, dass viele unserer Handlungen im täglichen Leben einen negativen Effekt auf die Natur und das Leben anderer haben. Wir sollten uns auch bewusst werden, welche Macht letztlich jeder von uns Angehörigen einer reichen Konsumgesellschaft besitzt. Dieser Einfluss geht weit über den engen Rahmen unseres Familienkreises hinaus: Wir sind politisch und wirtschaftlich gefragt, sonst würden die großen Unternehmen nicht solch einen immensen Aufwand betreiben, uns durch Werbung in ihrem Sinne zu Entscheidungen zu bewegen; sonst würde die Politik nicht immer wieder so dreist versuchen, Entscheidungen von großer Tragweite für die Allgemeinheit in Hinterzimmern zu besprechen und zu beschließen, um der Wählerschaft keine Angriffsfläche zu bieten.9 Im Gegensatz zu offen autoritär geführten Ländern haben wir noch genügend Freiheiten und Einfluss, um Unternehmen und Parteien zu Handlungen im Sinne des Allgemeinwohls anzutreiben, zu einer Handlungsweise, die nicht nur kurzfristigen Profit als Ziel hat, sondern unsere einzigartige Natur erhält und möglichst vielen Menschen ein würdiges, freies, friedliches Leben ermöglicht.

      Wir müssen uns offen eingestehen, dass eben dieses menschenwürdige Leben bei weitem nicht allen Erdbewohnerinnen und Bewohnern möglich ist, dass wir in Teilen die Verantwortung für diesen Missstand tragen, aber zugleich auch die Macht haben, etwas daran zu ändern. Und wen das Schicksal weit entfernter Völker nicht interessiert, der sollte


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