DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT. H. T. ThielenЧитать онлайн книгу.
Medizinstudenten eine sehr geringe skeptische Haltung in Bezug auf die Unangemessenheit von Pharma-Geschenken vertraten. Mit steigendem Semester verstärkt sich diese Haltung. Eine große Zahl der Studierenden war prinzipiell der festen Meinung, dass die Unterstützungsangebote der Pharmaunternehmen mit wertvollen Kontakten und Wissenserwerb verbunden sind.
Um der mangelnden kritischen Reflexion im Medizinstudium zu begegnen und auf die negativen Auswirkungen zu sensibilisieren, wie man sich der Einflussnahme des Pharma-Marketings entziehen kann, veranstaltet die Berliner Charité seit Jahren ein Seminar mit dem Namen „Advert Retard®“. Inhalte sind die unterschiedlichen Marketingstrategien der Pharmaindustrie und die dabei entstehenden Interessenkonflikte der Ärzte. An einigen anderen deutschen Hochschulen und Unikliniken werden gegenwärtig ähnliche, das System infrage stellende Veranstaltungen angeboten.80 Diese sinnvollen Ansätze scheinen die große Ausnahme und ein äußerst schleppender Prozess zu sein, denn pharmafinanzierte Hochschulen stehen einer kritischen medizinischen Ausbildung sich verweigernd gegenüber. Es ist enttäuschend und beunruhigend zugleich, wenn angehende Ärzte geschult werden müssen, um eine differenzierte und distanzierte Geisteshaltung gegen Beeinflussung und Bestechung zu entwickeln!
Das von vielen angehenden Ärzten sehr blindgläubige Verhalten gegenüber den Annäherungen der Pharmaunternehmen lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Annahme von Geschenken auch das spätere Verschreibungsverhalten maßgeblich beeinflusst.)
Die sozialwissenschaftliche Forschung bestätigt diese Auffassung und zeigt, dass auch kleine Geschenke entsprechende Wirkungen erzielen. Der Interessenkonflikt ist weitverbreitet und überall bekannt. Auch wenn die Ärzte im Allgemeinen verneinen, dass sie „pharma-gesteuert“ werden, so verschreiben sie doch mehrheitlich das Produkt eines Unternehmens, mit dem sie vorher „positive Kontakte“ hatten, auch ohne wissenschaftliche Begründung des medizinischen Vorteils.81
Eine Studie von Eric G. Campbell et al. (2007) untersuchte hierzu approbierte Ärzte in den Vereinigten Staaten. Sie besagt, dass selbst 94 % der befragten Mediziner Präsente oder Gelder als Erstattungen der Pharmaunternehmen für die Verschreibung von Medikamenten entgegennahmen.82
In letzter Konsequenz muss man die Handlungsweise vieler Hochschullehrer, Ärzte und auch vieler Medizinstudenten unverhohlen als verantwortungslos, ja als Korruption bezeichnen. Sowohl die Pharmaindustrie, aufgrund der Vorteilsgewährung, als auch die Mediziner, infolge der Vorteilsannahme, missbrauchen ihre Stellung zum privaten Profit. Welche Bedeutung dieser Tatbestand für die Patienten bzw. für die ganze Gesellschaft hat, ist in seinen Dimensionen kaum zu ermessen.
In der Medizin verursachen Käuflichkeit und Bestechung nicht allein materielle Schäden. Dass Millionen Menschen zu früh ihr Leben verlieren, zu viele Jahre in Krankheit leben müssen oder infolge der Nebenwirkungen der ausgestellten Medikamente erst krank werden, kann und wird heute niemand mehr leugnen können.83
Interessenkonflikte in der medizinischen Praxis
„Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“
(Georg Christoph Lichtenberg)
In der Bundesrepublik haben die meisten Patienten gute Erfahrungen mit ihren Ärzten und das Vertrauen zu der gesamten Berufsgruppe ist im Allgemeinen anhaltend gut. Die Patienten sehen im Arzt einen stets helfenden „Mitstreiter gegen das „Kranksein“, der im Falle eines auftretenden Leidens all seine Energien couragiert für ihre Gesundung einsetzt und jegliche sekundären Interessen, wie zum Beispiel Eigeninteressen finanzieller Art, zurückstellt. Aus berufssoziologischer Sicht spricht man in diesem Kontext von Profession. Die Basis dafür ist die Notwendigkeit einer besonderen Vertrauenswürdigkeit in der Ausübung des Berufes.
Diese glorifizierte Sichtweise auf die medizinische Realität ist allerdings sehr naiv, denn ein nicht zu unterschätzender Teil der Ärzteschaft kalkuliert in ökonomischen Kategorien. Ihre Handlungen sind nicht zuletzt vom Erreichen persönlicher Vorteile motiviert.
Da die spezifischen Einsatzfelder der Ärzteschaft sehr stark variieren, muss man vernünftigerweise auch nach deren primären Motivationen differenzieren.
Die Ärzte in der notfallmedizinischen Versorgung, Ärzte fernab der kurativen Medizin, aber auch die jungen Assistenzärzte in den unterschiedlichen Heilstätten sind nicht selten stark geprägt durch ethisch hochstehende medizinische Ideale84. Sie wollen helfen, haben in der Regel keine eigene Praxis und infolgedessen relativ wenige direkte Kontakte zur pharmazeutischen Industrie. Häufig haben ökonomische Motive nur eine sekundäre Bedeutung für ihr berufliches Handeln, deswegen spielen Interessenkonflikte lediglich eine marginale Rolle.
Bei niedergelassenen Ärzten, vorgesetzten Ärzten in den Kliniken und vielen Ärzten in Forschung und Lehre sieht das allerdings ganz anders aus.
Dennis F. Thompson hat in seiner Schrift „The Challenge of Conflict of Interest in Medicine“ die Problematik der Interessenkonflikte in der Medizin aufgearbeitet. Er sieht, angesichts der engen Beziehungen zwischen Arzt und Pharmaindustrie, die Gefahr, dass die persönlichen Intentionen eine verantwortungsvolle Patientenversorgung oftmals stark beeinträchtigen.85 Verbunden mit dem Sachverhalt, dass Arztpraxen auch wirtschaftliche Unternehmen sind, ergeben sich – wenig überraschend – verschiedenartige Interessenkollisionen.
Ein sehr wichtiger Sachverhalt in diesem Kontext ist die bestmögliche und gleiche Behandlung der einzelnen Patienten.
Die Problematik beginnt oft schon bei der Anfrage nach einem zeitnahen Arzttermin.
Aufgrund des Umstandes, dass bei Privatpatienten eine deutlich höhere Abrechnung der medizinischen Leistungen als bei Kassenpatienten möglich ist, wird eine Gleichbehandlung illusionär; der Privatpatient bekommt deutlich früher einen Arzttermin. Seit einigen Jahren muss man eine, den Sachverhalt noch verstärkende, sehr negative Entwicklung beobachten: Allgemeine Arztpraxen werden vermehrt in Privatpraxen reorganisiert, um über diese berechnende Finesse den finanziellen Gewinn zu maximieren und gleichzeitig dem nicht so lukrativen Kassenpatienten den Zugang zu verwehren.
In der Arztpraxis vor Ort geht die ungleiche Behandlung nahtlos weiter. Viele machen die enttäuschende Erfahrung, dass sie sehr lange, vielfach länger als die Privatpatienten, im Wartezimmer verbleiben, bis sie endlich den Arzt sprechen können – und dann dauert es nur wenige Minuten, bis das Gespräch beendet ist.
Aber auch die Privatpatienten machen die beunruhigende Erfahrung, dass sich ihr Arzt nicht mit der gebotenen Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Erkrankung widmet. Laut einer Meta-Analyse von 197 internationalen Studien aus 67 Ländern liegt Deutschland, in puncto Behandlungszeit, nur im unteren Mittelfeld. Ein Arztbesuch dauert durchschnittlich 7,6 Minuten, in Amerika sind es 21,07 Minuten, in Schweden 22,5 Minuten, also fast das Dreifache.86,87
In den Kliniken sieht es nicht besser aus. Sie haben sich zu fabrikähnlichen Gebilden entwickelt, in denen der Patient, wie ein Rohstoff, durch die einzelnen Fachabteilungen geschleust wird. Alle nur denkbaren Untersuchungen werden durchgeführt: Es muss Umsatz generiert werden. Ausführliche Gespräche sind jedoch eine Seltenheit, denn sie bringen keinen Gewinn.
Es ist naheliegend, dass sich sehr kurze Arzt-Patient-Gespräche sowohl auf die Krankheitserkennung als auch auf die Therapie sehr nachteilig auswirken. Die Ärzte wissen selbst, dass diese kurze Zeitspanne kaum ausreicht, um eine deutlich sichtbare Krankheit zu erkennen, geschweige denn, um schwerwiegende gesundheitliche Probleme zu diagnostizieren und zu behandeln. Und doch ist dieser fatale Umstand, auch in der Bundesrepublik Deutschland, eine allgemein bekannte und anscheinend akzeptierte Realität.
Eine gute und angemessene Kommunikation, ein Vertrauensverhältnis mit den Menschen, denen man sein Schicksal in die Hände legt, ist für die Patienten eine enorm wichtige Basis für die Genesung. In der Lehre ist dies längst bekannt. Man spricht von „Shared Decision Making“ oder partnerschaftlicher Entscheidungsfindung. Wenn alle relevanten medizinischen Informationen dem Patienten in verständlicher Form vorliegen und der Entscheidungsprozess gemeinsam gestaltet wird, dann wird die Therapie meist erfolgreicher verlaufen.88