Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl WilckensЧитать онлайн книгу.
lästige Alben, die mich nicht schlafen lassen.
In einer dunklen Gasse entdeckte ich einen Stapel alter Holzkisten. Ich ließ mich auf einer davon nieder und lehnte mich an die kühle Hauswand. Nach einer Weile klärte sich mein Kopf. Ich schloss die Augen und ließ zu, dass ich müde wurde.
Eine Tür fiel ins Schloss unter der zaghaften Berührung jemandes, der nicht gehört werden wollte. Ich zuckte zusammen. Tatsächlich war ich kurz eingeschlafen. Ich wandte den Kopf und sah Emily. Sie ließ den Blick schweifen. In der Hand hielt sie einen Stoffbeutel. Sie wandte sich nach rechts, folgte dem Verlauf der Straße und bog in eine Gasse ein. Unschlüssig blickte ich ihr nach. Sollte ich ihr nachlaufen? Nach kurzem Zögern erhob ich mich. Eine gefühlte halbe Stunde folgte ich ihr in sicherem Abstand, wartete stets, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden war, huschte notfalls von Versteck zu Versteck. Erst zuletzt wurde mir klar, welches Ziel sie hatte: den Friedhof von Treedsgow. Ich war nie dort gewesen und mir wäre nicht im Traum eingefallen, dort mitten in der Nacht hinzugehen. Ein Eisengitter umgibt diesen Ort, um die Toten fernzuhalten. Bäume warfen im Mondlicht tanzende Schatten über die Gräber. Ihr Laub erzitterte unter der Berührung einer nächtlichen Brise. Grabsteine in allen erdenklichen Größen und Formen wuchsen gleich Pilzen aus dem Boden. Gräber unterschiedlicher Größe reihten sich aneinander und verliehen dem Boden das Aussehen eines bunten Flickenteppichs.
Eines musste ich Emily lassen: Sie hatte Mut.
Das schmiedeeiserne Tor knarrte, als sie es öffnete. Sie zog es hinter sich zu, und ich fluchte stumm. Wenn ich sie nicht aus den Augen verlieren wollte, musste ich ihr durch dieses verräterisch ächzende Tor folgen. Also aufgeben und umkehren? Nein. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und holte Luft. Es gab nur eine Möglichkeit, es leise zu öffnen …
Ich stieß das Tor auf. Es quietschte, jedoch kaum lauter als der Ruf eines Nachtvogels. Ich tauchte ins Dunkel der Bäume ein, duckte mich hinter eine Reihe von plumpen Grabsteinen und ließ den Blick schweifen. Der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft. Die Schwärze der Nacht drückte auf meine Augäpfel. Hier wuchsen mächtige Eschen, Ulmen und Ahorne, deren Baumkronen sich zu einem dichten Blätterdach verschlossen. Nur an wenigen Stellen zeichnete das Mondlicht silberne Flecken auf die Gräber, gespenstig und schön zugleich. Soeben löste sich Emilys Silhouette aus der Schattenfront, die eine dieser Lichtungen umgab, und verschmolz auf der anderen Seite wieder mit der Finsternis. Ich eilte ihr nach. Mäuse und anderes Kleintier flohen vor meinen Schritten. Ich versuchte, auf keines der Gräber zu treten, aber das war unmöglich.
Emilys Weg endete auf einer weiteren Lichtung. Ein mächtiger Grabstein erhob sich im Zentrum. Er stand schräg, als wäre er im Boden eingesunken, und wäre wohl als ganz gewöhnlicher Felsbrocken durchgegangen, wäre da nicht die verwitterte Inschrift gewesen, die halb von Efeu und Moos verdeckt wurde.
Emily ließ sich vor dem Grabstein auf die Knie sinken. Das Gras wuchs so hoch, dass es sie fast überragte. Sie griff in den Stoffbeutel und brachte mehrere Dinge zum Vorschein: Ein Teelicht, eine Schachtel Zündhölzer, ein silbernes Messer. Schließlich stülpte sie den Beutel um, und ein Haufen schneeweißer Steine ergoss sich ins Gras. Sie fing an, ein Bild zu legen. Ich konnte nicht sehen, was es war. Als sie damit fertig war, holte sie ein Zündholz hervor und zog es über ihre Schuhsohle, woraufhin es fauchend zum Leben erwachte. Sie entzündete das Teelicht und stellte es in die Mitte ihres Steinbildes. Anschließend hob sie das Messer. Der Stahl blitzte im Mondlicht. Sie streifte den Ärmel ihrer Bluse zurück und schnitt sich, ohne zu zögern, ins Fleisch. Ich unterdrückte ein Keuchen. Dunkles Blut lief über ihren Unterarm und tropfte von der Spitze des Ellbogens auf das Grab. Emily verharrte reglos mit ungerührter Miene. Schließlich griff sie nach einer Mullbinde, die zwischen den noch verbliebenden Steinen lag. Sie verband sorgfältig ihren Arm, verstaute Messer, Zündholzschachtel und alle übrigen Steine im Beutel und wartete. Und wartete. War sie eingeschlafen? Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.
Dann, nach einer weiteren gefühlten Stunde, rührte sie sich: Sie beugte sich vor, eine Statue, die zum Leben erwachte, und blies das Teelicht aus.
„Hast du wirklich geglaubt, ich wüsste es nicht?“, fragte sie laut. Mein Herzschlag setzte aus. Ihre Stimme klang verändert, dunkler, bedrohlicher. Wie lange wusste sie schon, dass ich hier war?
Ihr Kopf ruckte nach rechts. „Du weißt sehr wohl, wovon ich rede. Ich hätte dir niemals vertrauen dürfen.“
Ich holte tief Luft und sammelte all meinen Mut zu einer Antwort.
Emily lachte freudlos. „Willst du mir weiß machen, er stecke dahinter?“
Die Worte blieben mir im Hals stecken. Redete sie wirklich mit mir?
„Ich weiß noch nicht. Fürs erste bleibst du dort drin.“ Offensichtlich war noch jemand hier, den nur sie hören konnte. Ich schluckte meine Antwort hinunter und duckte mich tiefer in die Schatten.
„Wenn du bereit bist, mir die Wahrheit zu sagen. Ich komme in einigen Tagen wieder. Überlege dir bis dahin gut, was du mir zu erzählen hast.“ Emily war verrückt. Völlig verrückt! Sie erhob sich, wandte sich um und verließ die Lichtung.
Ich wartete eine lange Zeit, ehe ich mich aus meinem Versteck wagte. Jetzt erkannte ich, welches Bild sie mit den Steinen gelegt hatte: Einen fünfzackigen Stern, ein Pentagramm. Der Docht des Teelichts glühte noch. Obwohl es Windstill war, hörte ich die Bäume flüstern. Die Luft um mich herum war wie elektrisiert. Mein Instinkt flehte, diesen Ort zu verlassen. Im Licht des Mondes sah ich dunkle Flecke auf dem Gras. Emilys Blut. Aber war es das Mondlicht? Oder kam das Leuchten aus den weißen Steinen? Ich beugte mich herab und nahm einen aus dem Pentagramm. In dem Moment, da ich dies tat, brach die Spannung um mich herum zusammen. Das Leuchten der Steine erstarb, bevor ich mich davon überzeugen konnte, ob es überhaupt da gewesen war, und das Flüstern der Bäume verstummte. Mir war, als hörte ich Gelächter, rachsinnig, irre und aus so weiter Ferne, dass ich es mir ebenso gut hätte einbilden können. Es lief mir eiskalt den Rücken hinab und dennoch verspürte ich große Erleichterung. Ich legte den Stein zurück in die Lücke des Pentagramms, aber die Atmosphäre blieb entspannt. Ein mulmiges Gefühl ergriff von mir Besitz. Mir war, als hätte ich etwas aus seinem Käfig befreit. Etwas Böses.
Ich betrachtete die Inschrift auf dem Grabstein. Es waren vier Zeilen in Runenschrift. Ich wandte mich um und verließ die Lichtung. Ich wollte den Friedhof so schnell wie möglich verlassen. Wollte nur noch in mein Bett. Auch wenn an Schlaf nicht zu denken war, so konnte ich dort wenigstens in aller Ruhe nachdenken.
Am nächsten Morgen suchte Emily mich im Lehrgebäude für elektronische Technik auf. Ich sah sie, während ich im Strom der Studenten von einem Hörsaal zum nächsten trieb. Sie grüßte mich förmlich und bat mich steif um ein Gespräch unter vier Augen.
„Ich hab etwas für dich“, flüsterte sie so leise, dass nur ich es hörte. Sie bedeutete mir, zu folgen, und ging voraus zurück in den leeren Hörsaal. Auf ein Zeichen von ihr schloss ich die Tür hinter uns. Sie hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und trug ein geheimnisvolles Funkeln im Blick.
„Ich muss dich warnen“, sagte sie. „Du wirst vielleicht nicht gerade begeistert sein.“
Ich hob nur die Brauen.
„Nachdem du mir gestern von deiner Begegnung mit Diane erzählt hattest, fand ich einfach keinen Schlaf …“
Was du nicht sagst.
„Emily“, warnte ich. „Du hast doch nicht etwa …“
Bevor ich den Satz beenden konnte, streckte Emily ihren rechten Arm aus. Ich stöhnte. Auf ihrer offenen Handfläche lag ein Mojo.
„Du erwartest doch nicht, dass ich das trage“, sagte ich. Allein bei dem Gedanken, was Ed dazu sagen würde, verging mir die Lust.
„Tu es für mich“, flehte Emily. „Wenn du es unter deinem Hemd trägst, sieht es doch keiner.“ Ich musterte sie. Nichts an ihrem Äußeren ließ auf den Irrsinn schließen, der hinter ihrer Stirn wohnte – ließ darauf schließen, dass sie sich nachts auf Friedhöfen herumtrieb, fremde Gräber mit ihrem Blut wässerte und mit sich selbst