Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl WilckensЧитать онлайн книгу.
diesem Moment erschien das Sicherheitspersonal zu meiner beider Seiten.
„Die Zeit ist um.“
„Du findest den Schlüssel zu meiner Wohnung in einer Mauerfuge auf Kniehöhe links von der Tür“, flüsterte Emily. Ich erhob mich. Vergeblich suchte ich in ihrer Miene nach einem Hinweis. Emily erwiderte meinen Blick ernst.
„William, wenn ich wahrhaft verrückt wäre, würde ich diese Tatsache mit offenen Armen begrüßen“, sagte sie und scherte sich dieses Mal einen Dreck darum, dass das Sicherheitspersonal sie hören konnte. „Denn die Realität ist schlimmer.“
W. D. Walker
End
Hier endete das Tagebuch. Es war bis auf die letzte Seite beschrieben. Vielleicht gab es einen zweiten Teil? Aber nein: Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass einige Seiten fehlten. Man hatte sie herausgerissen. Ich fuhr mit dem Finger über die Seitenstümpfe und zählte. Es waren dreizehn. Dreizehn Seiten fehlten.
Ich las die letzten Zeilen erneut. Von welcher Realität sprach Emily? War sie immer noch in der Nervenheilanstalt? Wie lange mochte das Ganze zurückliegen?
In diesem Moment ging die Tür auf, und Teena betrat den Raum. Ich stand auf.
„Teena! Wo ist Sam?“
„Chemo hat sie.“ Es dauerte einen Moment, ehe ich mich daran erinnerte, wer Chemo war. Es war so lange her, dass ich ihn im Entzugswahn in den Neulingsschacht geworfen hatte. „Es tut mir leid, Godric. Ich bin ihm im Unterrumpf begegnet und er nahm mich gefangen. Er ist unglaublich stark. Das Perl … hat ihn verändert.“
„Was ist mit Sam?“
„Chemo hat mich im Austausch für sie freigelassen, damit ich dir davon berichten kann. Ich sagte ihr, sie solle sich nicht darauf einlassen, aber sie hörte nicht. Er will dich töten.“
Ich knurrte. „Ich hätte ihm damals den Hals umdrehen sollen. Wo ist er?“
„Er erwartet dich an Deck. Aber Godric … sei auf alles gefasst.“
Ich wandte mich ab und erklomm die Leiter, die zu dem verborgenen Eingang führte. Auf dem Gang davor erwartete mich niemand. Ich trat ins Freie und hastete über das Deck. Es war ein strahlend schöner Wintertag. Ich sah nur wenige Piraten. Sie alle gingen in die gleiche Richtung – zum Ort des Geschehens. Manch einer rief mir nach, aber ich rannte einfach weiter. Nur einmal wurde ich langsamer: als ich den Schiffsaufbau passierte, der zur Dealertür führte. Ich hörte den Lärm dutzender Süchtiger, die schrien und kreischten und gegen die Eisentür hämmerten. Der Grund dafür konnte nur schwarzes Perl sein.
Ich fand Chemo im Zentrum einer Menschenmenge. Er war nicht wiederzuerkennen. Bis auf eine zerschlissene Hose war er nackt. Von Kopf bis Fuß verunzierten Narben seinen Körper. Die Muskeln waren auf unnatürliche Weise angeschwollen. Die weiße Haut derart gespannt, dass sie zu reißen drohte. Seine massigen Schultern hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Die Adern traten schwarz hervor. Das lange Haar war weiß wie Schnee, seine unversehrte Iris ebenfalls und nur die Pupille, ein schwarzer Punkt in seinem gesunden Augapfel, zeigte die Richtung, in die er blickte. Hatte auch ich wie ein mutiertes Ungeheuer ausgesehen, als ich den Unterrumpf verlassen hatte?
Chemo drückte ein Messer an Sams Kehle. Sie blutete an der Schläfe und wirkte benommen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge.
Chemos Augen weiteten sich. „Eeend!“ Er stieß Sam von sich, die in die Menge taumelte und beinahe gestürzt wäre. Jemand von Marios Bande fing sie auf, und man schloss sie in einen schützenden Kreis.
„Endlich hab ich dich.“ Seine Worte waren dunkel, als läge Teer auf seinen Stimmbändern. Er neigte den Kopf nach links und rechts und ließ den Nacken knacken. „Du hast mir die Sonne genommen.“
„Wie du mir.“
„Ich werde dich zerreißen.“ Das Blut in seinen Adern pulsierte. Die Muskeln zuckten. „Ich werde dich in Fetzen reißen.“
Er stürzte sich auf mich. Ich wich aus. Aber Chemo war schnell. Übernatürlich schnell. Er verschwamm vor meinen Augen und stand jäh hinter mir. Ich hatte kaum Zeit, mich umzudrehen, als mich ein heftiger Schlag in die Seite traf. Ich stolperte und stürzte, rollte über die Schulter und kam wieder auf die Beine. Schmerz strahlte über meine Rippen. Chemo lachte. Wie schnell er war. Wie stark. Da bemerkte ich das schwarze Pulsieren hinter dem schmutziggrauen Stoff seiner Hose. Selbst nachdem Limbania mich von Hungers Präsenz und der Sucht nach Perl befreit hatte, sah ich es. Das schwarze Perl. Chemo hatte es mit Sicherheit zu sich genommen und trug mindestens eine weitere Perle in der Hosentasche. Unter dem Einfluss von schwarzem Perl war es mir gelungen, den Pelz zu töten. Chemo war vermutlich jetzt im Stande, Eisenwände mit bloßer Faust zu durchschlagen. Ich musste damit rechnen, dass ihm ein Dämon wie Hunger zur Seite stand. Vielleicht sogar mehrere.
Wieder stürmte er vor. Ich zog die Machete. Chemo lachte wie jemand, der den Tod nicht fürchtet. Wieder bewegte er sich schneller, als ich fassen konnte. Ich biss die Zähne zusammen. Es gelang mir, seinem Streich auszuweichen. Ich wirbelte herum und hieb mit der Machete hinter mich. Tatsächlich war Chemo schon dort, wie ich es erwartet hatte. Wieso ich ihn nicht traf, war mir ein Rätsel. Ich steckte einen heftigen Schlag vor die Brust ein und stürzte erneut. Unsanft schlug ich mit dem Rücken aufs Deck. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Die Machete glitt mir aus den Fingern und fiel klirrend zu Boden. Wie ich so dalag und benommen in den Himmel blickte, bemerkte ich zwei strahlend weiße Augen in einem Gesicht so schwarz wie Tinte. Teena. Sie hockte auf dem Dach eines Schiffsaufbaus und winkte mir zu. In der Hand hielt sie ein Fläschchen mit leuchtend grüner Flüssigkeit. Sie ließ es los, und ich fing es auf.
„Steh auf, End.“
Chemo hatte nichts bemerkt. Ich sprang auf die Beine, obwohl mein Brustkorb rundherum schmerzte. Hinter vorgehaltener Hand musterte ich erst das Fläschchen, dann Chemos geschmolzene Gesichtshaut. Und ich verstand. Chemos entstelltes Gesicht rührte nicht von einem Feuer her, wie ich immer geglaubt hatte, sondern von einer chemischen Substanz. Vermutlich von genau der, die ich in Händen hielt. Hatte Teena ihm das angetan? Rührte daher sein Name?
Chemo stürmte ein drittes Mal vor. Ich warf ihm das Fläschchen entgegen. Es platzte auf seiner nackten Brust und übergoss ihn mit ätzender Flüssigkeit. Chemos Schrei war nur entfernt menschlich. Er fasste sich an die Brust, als wolle er sich die Haut vom Leib ziehen. Dabei benetzte er auch seine Finger mit Säure. Seine Haut dampfte.
„Nicht wieder“, schrie er.
Ich bückte mich nach der Machete und hackte auf Chemo ein. Die Klinge schnitt durch seine Haut, doch sie glitt an seinen Muskeln ab wie an einem blanken Stahlkörper. Wo sie aber die pulsierenden Adern traf, spritzte dunkles Blut hervor. Ich hackte so lange auf ihn ein, bis er in einem See seines eigenen Blutes zusammenbrach. Schwer atmend richtete ich mich auf und sah in die Gesichter der Umstehenden. Ihre Blicke zollten mir Furcht und Ehrfurcht. Viele wichen dem meinen aus. Franco nicht.
„Ich werde deinen Auftrag nicht ausführen“, rief ich. „Und ich werde jeden töten, der es stattdessen versucht.“
Franco lächelte schief. „Dafür ist es leider zu spät.“
Ich begriff nur eine Sekunde zu langsam.
Ich wandte mich um und rannte dorthin, wo Marios Männer Sam eingekreist hatten. Mario hatte seine Pistole gezückt und richtete sie auf ihre Stirn. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich tu es zum Wohl meiner Männer.“
Im Lauf packte ich einen Pistolengriff, der aus dem Gürtel eines Piraten ragte, hob die Waffe und schoss.
Die Schüsse ertönten gleichzeitig. Ich traf Marios Pistole und sie wurde ihm aus der Hand gerissen im selben Moment, da seine Kugel ein Loch in Sams Stirn schlug.
„Nein!“ Die Reihen Marios Männer schlossen sich vor mir. Ich blieb stehen. Hass umschloss mich wie ein Netz aus glühendem Draht, zog sich zusammen und brannte tiefe Narben in meine Haut. Ich wollte Vergeltung! Dieses ganze Schiff versenken