Voll verliebt im Tor. Ulrike BliefertЧитать онлайн книгу.
dem Brautpaar zuliebe …«
Schließlich hatte man sich auf ein langes, bunt besticktes weißes Baumwollkleid im Boho-Stil geeinigt. Mama hatte es in der Fußgängerzone im Schaufenster entdeckt und Oma Helga hatte sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen wollen: »Wie ich früher! So was haben wir uns damals aus alten Kreuzstich-Tischdecken selbst genäht!«
Damals, das war irgendwann in den Siebzigern gewesen. Und wenn man Oma glauben durfte, war damals alles besser. Komisch nur, dass Oma Helga und all ihre Freunde damals trotzdem ständig gegen irgendwas protestiert hatten. »So toll kann es damals dann ja wohl doch nicht gewesen sein«, hatte Paula irgendwann mal eingewandt, und als Oma Helga daraufhin ausnahmsweise mal absolut kein Kommentar einfiel, hatte Paulas Mutter ein bisschen schadenfroh gekichert.
Jetzt kämpfte Paulas Mutter allerdings genau wie die meisten anderen Hochzeitsgäste mit den Tränen.
Paula musterte sie verstohlen von der Seite. Gesine Schmidtke hatte ihre wilden braunen Locken zur Feier des Tages extra beim Friseur hochstecken lassen. Sie trug ein kurzes, ärmelloses Kleid und darunter das verhassteste Kleidungsstück überhaupt: hautfarbene Strumpfhosen!
Paula grinste. Trotz all der Mühe wirkte ihre Mutter kein bisschen erwachsener. Puppenschnute hatte Oma Helga sie als Kind genannt. Und genauso sah sie auch aus. Stupsnase, Sommersprossen, Schmollmund. Kein Wunder, dass alle sie für Pauls und Paulas ältere Schwester hielten.
Paula rechnete nach: Oma Helga war keine zwanzig gewesen, als sie ihre Tochter zur Welt brachte. Und als ob es die Familientradition verlangte, war Omas Tochter ebenfalls pünktlich neun Monate nach ihrer Abifeier Mutter geworden. Und das gleich zweifach.
Dann müsste ich als Tochter von Omas Tochter traditionsgemäß in – Paula nahm zum Rechnen die Finger zu Hilfe – in … sieben Jahren ein Kind kriegen.
Nee, ganz sicher nicht!
Und heiraten würde sie auch nicht. Oder wenn, dann erst nach etlichen Jahren Bedenkzeit. Es mussten ja nicht unbedingt zweiundzwanzig sein, wie bei Oma und Horst.
Die schauten sich da vorne am Altar gerade tief in die Augen und Hotte nestelte in seiner Smokingtasche nach den Trauringen: Oma und Horst, genannt Hotte.
Die beiden hatten sich Anfang der Achtziger bei einer Antiatomkraft-Demo kennengelernt. Hippie-Helga und Hotte, der Polizist. Oma Helga hatte sich bei einem Sitzstreik immer wieder von Hotte wegtragen lassen; so lange, bis er sie zum Pizzaessen einlud.
Heute würde er sie keinen Meter mehr schleppen können und Oma Helga sah in ihrem himbeerrosa Seidenkostüm auch eher wie ein Mitglied der britischen Königsfamilie als wie eine Revoluzzerin aus.
Aber Hotte schien das knallpinke Outfit seiner Braut zu gefallen; er strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
Er sieht ein bisschen aus wie dieser Schauspieler, der in den alten James-Bond-Filmen die Hauptrolle gespielt hat, dachte Paula. Zu blöd, dass er sich allen Familienprotesten zum Trotz nicht von seinem komischen Schnauzbart trennen will. Aber im Fußball war er ein Ass.
Hotte Reimann hatte Paul und Paula das Kicken beigebracht, als sie kaum laufen konnten. Als sie vier wurden, hängte er im Garten einen Autoreifen auf. »Eine Schaukel«, freuten sich Paul und Paula. Aber Hotte erklärte ihnen, dass das eine mobile Torwand sei. Und dann übte er mit ihnen so lange Bälle durch den Autoreifen zu schießen, bis sie im Park und auf dem Schulhof unschlagbar waren.
Vorne am Altar zitierte der Pastor einen Spruch, der offenbar nicht in der Bibel stand: »Gott hat die Frau nicht aus des Mannes Kopf geschaffen, dass sie ihm befehle, noch aus seinen Füßen, dass sie seine Sklavin sei, sondern aus seiner Seite, dass sie seinem Herzen nahe sei.«
Cooler Spruch, dachte Paula.
Und überhaupt: Das mit dem Sitzstreik und der Pizza hatte Oma damals wirklich prima hingekriegt. Handwerklich war Hotte zwar ein Totalausfall und auch als Kfz-Mechaniker steckten Oma und Mama ihn glatt in die Tasche, aber er war nun mal der einzige Mann im Haus. Einen Papa gab es nur per Brief und Postkarte und – seit sie einen eigenen Computer hatten – auch per E-Mail.
Paula seufzte hörbar. Es war toll, einen Vater zu haben, der in Afrika kranken Menschen half. Und es war ganz in Ordnung, dass ihre Eltern nicht geheiratet hatten, bloß weil ein Kind unterwegs war. Dass es zwei sein würden, stellte sich ja erst viel später heraus. Da hatte Papa Christof bereits das Stipendium für Kapstadt. Und Oma hatte rigoros verkündet, dass man die Kinder auch alleine groß kriegen würde. Also blieb Papa in Afrika. Bis heute. Wenn er alle drei Jahre einmal nach Deutschland kam, fühlte er sich wie ein Tourist.
Er war nett. Aber für sie und Paul blieb er ein Fremder.
Paula wischte den Gedanken beiseite. Er war okay. Er schrieb witzige E-Mails und schickte die originellsten Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke.
Aber wenn es in den letzten Jahren in Bio und Erdkunde gehapert hatte, war es Hotte gewesen, der mit ihnen bis in die Nacht an den Hausaufgaben saß. Er hatte ihnen geholfen, den halb toten Igel gesund zu pflegen, der in ihrem Vorgarten gelandet war, und er konnte toll Gitarre spielen.
Wie aufs Stichwort hauchte Oma Helga feierlich ihr »Ja!«.
Es folgte ein schnauzbärtiger Kuss, der Chor stimmte »When I’m 64« von den Beatles an und das Brautpaar schritt feierlich durch den Mittelgang der Kirche.
Hotte zwinkerte Paula im Vorbeigehen zu.
Einen besseren Opa kann man sich gar nicht wünschen, dachte Paula und fuhr sich hastig mit dem Handrücken über beide Wangen.
Jetzt gab es erst mal eine riesengroße Hochzeitsparty und dann – gleich morgen – sollte es losgehen. Von Köln nach Berlin; genauer: nach Köpenick.
Kannst du auch nicht schlafen?« Paul war aus seinem Zimmer herübergeschlappt und stand unschlüssig in der Tür.
»Nee«, brummte Paula.
Unter ihnen hämmerten unverdrossen die Beats. Die Zimmer waren schon fast leer geräumt und Oma, Mama, Hotte und die Hochzeitsgäste tobten sich seit Stunden auf einer Tanzfläche aus, die praktisch das gesamte Erdgeschoss einnahm. Aber es war nicht der Lärm, der Paula und Paul vom Schlafen abhielt.
»Ist schon irgendwie komisch, hier wegzuziehen, oder?« Paula knipste die Nachttischlampe an und forderte ihren Bruder mit einem Kopfnicken auf, sich zu ihr zu setzen. »Püppi scheint das Ganze jedenfalls nichts auszumachen«, grinste Paul.
Püppi, das zweijährige Dobermann-Mädchen, lag vor Paulas Bett und schnarchte selig vor sich hin, von den sich türmenden Umzugskisten, den aufgerollten Teppichen und den gähnend leeren Regalen ringsum völlig unbeeindruckt.
Vorsichtig stieg Paul über den schlafenden Hund und ließ sich neben seiner Schwester aufs Bett fallen.
»Für Püppi ist Köpenick ja auch echt die große Nummer«, stellte Paula fest. »Sie kriegt ’ne nagelneue Hütte und ’nen Riesengarten zum Toben.«
»Und wir kriegen immerhin ’ne ganze Etage nur für uns«, gab Paul zu bedenken.
»Na jaaa …« Paula wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. Das neue Zuhause war wirklich nicht zu vergleichen mit dem mausgrauen Sechzigerjahre-Reihenhäuschen, in dem sie bis jetzt gelebt hatten.
Die alte Villa, die Hotte vor einem Dreivierteljahr völlig überraschend von einer Großtante geerbt hatte, war ein Traum: ein imposantes Holzbauwerk aus den Zwanzigerjahren mit zwei Terrassen und einem ausgebauten Dach, das die Zwillinge ganz allein bewohnen durften. Es gab für jeden ein eigenes kleines Zimmer zum Lernen und Schlafen, dazu ein Bad und eine winzige, aber gemütliche Teeküche. Der Clou jedoch war das Balkonzimmer, das die beiden gemeinsam als eine Art Wohnzimmer benutzen durften; möbliert mit Tante Käthes behäbigem blauem Samtsofa und ihrem riesigen, ebenso betagten Esstisch, dem Oma Helga die Beine auf Couchtischhöhe abgesägt hatte. Sie hatten sich vorgenommen, das Ding mit Goldfarbe