Vom Zucker-Junkie zur Zuckerfrei-Heldin. Birgit BöhmЧитать онлайн книгу.
wundervolle Frau war der Auslöser dazu. Sie hat mich zutiefst berührt und mir die Augen geöffnet. Ihr zu Ehren möchte ich dir gerne im nächsten Kapitel von unserer gemeinsamen Geschichte erzählen.
Anna und die Rosenmarillen-Marmelade
„Wir haben zwei Leben. Das zweite beginnt in dem Moment, in dem wir erkennen, dass wir nur eines haben.“
Konfuzius
Ich möchte dich gerne mitnehmen in meinen Sommer 2016. Ich war zutiefst verzweifelt. Wieder einmal. Für meine Arbeit in meiner Praxis als Lebens- und Sozialberaterin hatte ich wenig Energie. Wie auch, mit 40 Kilo Übergewicht, zwei bis drei Migräne-Tagen pro Woche und dem permanenten Gefühl von Überforderung. Verzweifelt beschloss ich, eine berufliche Auszeit zu nehmen.
Zeitgleich erzählte mir meine Mutter, dass es ihr körperlich nicht gut gehe und sie ihren übervollen Alltag verändern müsse, der aus einer Anstellung in einer Arztpraxis bestand, einem anspruchsvollen Nebenjob und zwei zu führenden Haushalten. Außerdem kümmerte sich meine Mutter um Anna, ihre Nachbarin. Die Beziehung zwischen den beiden könnte man als Mama-Tochter-Ersatz beschreiben. Die beiden mochten sich sehr und waren gerne füreinander da. Annas leibliche Tochter wohnte weit weg. Sie hatte wenig Zeit für ihre Mutter. Auch sonst gab es keine Verwandten in ihrer Nähe. Meine Mama unterstützte Anna gerne, doch ihr ging gerade selbst die Kraft aus.
Anna war zu dieser Zeit über 80 Jahre alt, zuckerkrank und sie hatte Alzheimer. Doch sie konnte noch ganz gut für sich selbst sorgen. Trotzdem wollte ihre Tochter, als meine Mutter für sechs Wochen zur Reha musste, jemanden engagieren, der Anna einmal täglich für eine Stunde besuchte, damit sie nicht so alleine war. Ich beschloss, das während meiner Auszeit gerne zu tun.
Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich eine innige Freundschaft zwischen Anna und mir. Wir freuten uns jeden Tag auf unser Treffen und auf unsere Gespräche, in denen mir Anna viel von ihrer zum Teil sehr schweren Vergangenheit erzählte. Rasch lernte ich ihre Gewohnheiten und Rituale kennen. Eine Gewohnheit war das Naschen beim Fernsehen. Anna saß viele Stunden vor dem Fernseher. Ich vermute, es gab ihr das Gefühl, nicht so alleine zu sein. Wegen der Zuckerkrankheit war das Naschen keine gute Idee, doch ihre Tochter kam dagegen nicht an. Anna bestand vehement auf ihre Nasch-Gewohnheiten, die sie seit Jahrzehnten pflegte. Wenn es sein musste, kaufte sie sich ihre Lieblingskekse heimlich selbst. Seit Jahren frühstückte Anna jeden Tag das Gleiche: zwei Häferl Kaffee mit viel Milch und dazu ein Toastbrot mit Butter und Rosenmarillen-Marmelade.
Eines Tages kam ich wie gewohnt zu Anna. Sie sagte zu mir: „Birgit, kannst du mir bitte ein Glas Rosenmarillen-Marmelade besorgen?“ Ich fragte sie, ob sie wirklich sicher sei, dass sie eines brauchen würde, weil sie erst gestern eines gekauft hätte. Anna bekräftigte ihre Aussage mit einem überzeugenden Kopfnicken. Jetzt wollte ich es genauer wissen. Ich schaute in den Kasten und stellte fest, dass das Glas tatsächlich leer war. Anna hatte die Marmelade von einem auf den anderen Tag komplett ausgelöffelt. Gott sei Dank ging es Anna gut und der viele Zucker schien keine akuten gesundheitlichen Konsequenzen zu haben – was mich aber nicht davon abhielt, ihre Tochter darüber zu informieren.
Das war ein Schlüsselmoment für mich. Mir wurde plötzlich klar, dass Anna seit Jahrzehnten bestimmte Gewohnheiten hatte, und dass es mit 80 Jahren, einer Zuckerkrankheit und Alzheimer ein Ding der Unmöglichkeit war, diesen festgefahrenen Alltagstrott, der ihrer Gesundheit nicht zuträglich war, zu verändern. Mir wurde mit einem Schlag bewusst, was schlechte Angewohnheiten mit uns Menschen machen. Ich verstand plötzlich, dass Gewohnheiten unser Leben bestimmen.
Wir sind die Summe unserer Gewohnheiten.
Das war wie ein Weckruf für mich und mein gesamtes Leben. Ich begann nachzudenken. Wenn ich heute mit 40 Jahren Gewohnheiten habe, die zu 40 Kilo Übergewicht geführt haben, wer bin ich dann in 10, 20 oder 30 Jahren? Wer werde ich in Zukunft sein, wenn ich so weitermache wie bisher, wenn ich meine destruktiven Angewohnheiten beibehalte?
Bald verschlechterte sich Annas Allgemeinzustand von einem Tag auf den anderen. Abwechselnd wohnten ihre Tochter oder ihre Schwester mit ihrem Schwager bei ihr. Ich begleitete schließlich die ganze Familie wie eine Freundin während dieser schweren Zeit, in der es Anna zunehmend schlechter ging. Ende 2016 musste Anna ins Altersheim. Auch dort besuchte ich sie täglich. Und auch dort stellte ich mir oft die Frage, wie es mir wohl im Alter gehen würde, wenn ich meine destruktiven Gewohnheiten nicht verändern würde.
Während dieser Zeit begann ich mit einer Weiterbildung: „Case Management und Angehörigenberatung für Menschen mit Demenz“. Annas Geschichte berührte mich so sehr, dass ich mehr über Alzheimer wissen wollte. In einem Modul, das Teil dieser Weiterbildung war, ging es um Ernährung. Nach unzähligen gescheiterten Abnehmversuchen – ich brachte zum damaligen Zeitpunkt 105 Kilo auf die Waage – war mein Selbstvertrauen im Keller und ich frustriert und verzweifelt. Ich wollte über gesunde Ernährung nichts mehr wissen und überlegte, ob ich diesen Kurstag einfach schwänzen sollte. Doch das schien keine gute Idee zu sein, weil ich ohne diesen Kurstag nicht zur Abschlussprüfung antreten durfte. Also ging ich hin. Das war der 7. Jänner 2017. Der Tag, an dem ich aufhörte, Zucker zu essen. Ich erkannte endlich, dass mein übermäßiger Zucker- und Kohlenhydratekonsum wie eine unfreiwillige Hochschaubahnfahrt für meinen Blutzuckerspiegel war, die ihn erst künstlich hochsteigen und danach wieder abstürzen ließ und mich dieser Vorgang abhängig machte.
Ich veränderte die destruktive Gewohnheit Zucker, indem ich aufhörte, Zucker zu WOLLEN. Das veränderte mein ganzes Leben.
Wie du bereits weißt, verlor ich innerhalb von eineinhalb Jahren 40 Kilo Übergewicht und die Migräne verschwand. Meine Energie und meine unbändige Lebensfreude kamen Schritt für Schritt zurück. Ich bin jetzt wieder der Mensch, der ich wahrhaftig bin, mit dem Körper, der meinem Wesen tatsächlich entspricht.
Anna verstarb im Februar 2017 im Krankenhaus. Sie war eine ganz besondere Frau für mich – gutmütig, warmherzig und liebevoll. Ich bin zutiefst dankbar für unsere gemeinsame Zeit. Als Anna noch lebte, fragte ich mich oft: Wie würde es ihr wohl gehen, wenn sie die schlechte Gewohnheit Zucker nicht hätte? Ich werde auf diese Frage nie eine Antwort bekommen. Das ist vermutlich auch nicht von Bedeutung, denn das sind solche Was-wäre-wenn-Fragen nie. Doch dieser Gedanke war der Auslöser für mich, meine krankmachenden Gewohnheiten zu verändern.
Nach dieser intensiven Zeit traf ich eine Entscheidung. Ich lege meine langjährige Erfahrung, mein wertvolles Wissen als Psychologische Beraterin und mein ganzes Herzblut in ein nachhaltiges Unterstützungsangebot. Ich gründete die „Zuckerfrei-Heldinnen“.
Selbstreflexion: Gibt es etwas, das du dir aus dieser Geschichte mitnimmst? Was ist dein „Diamant“?
Zur Erklärung: Ein Diamant ist eine Erkenntnis, ein erhebender Gedanke oder ein positives Gefühl, das du dir aus einer Geschichte, einem Kapitel in einem Buch, einer Übung oder aus einem Gespräch mitnimmst. Etwas, das buchstäblich hängenbleibt. Und weil Gedanken flüchtig sind und Erkenntnisse ebenso, macht es Sinn, wenn Stift und Papier beim Lesen immer griffbereit sind, um dir Notizen zu machen. Oft tauchen Erkenntnisse nur kurz auf und im nächsten Augenblick sind sie auch schon wieder verschwunden und damit verloren, wenn wir sie nicht sofort notieren. Genau diese Gedankenblitze entpuppen sich häufig als unendlich wertvoll. Außerdem macht es grundsätzlich Sinn, Gedanken, Gefühle und Erkenntnisse festzuhalten. Schreiben macht frei, bringt etwas auf den Punkt, es klärt und hilft uns beim Sortieren und Unterscheiden. Schreiben ist verbindlich.
Du findest in diesem Buch viele Übungen und Fragen zur Selbstreflexion und ich möchte dich aus ganzem Herzen einladen, diese Übungen durchzuführen und die Fragen schriftlich (!) zu beantworten. Denn genau das bringt dich in die Handlung und somit in die Veränderung. Verschiebe das Beantworten der Fragen und das Durchführen der Übungen nicht auf später, sondern tu es dann, wenn du im Lesefluss und somit im Prozess bist.
Zucker-Fakten
„Alle Dinge sind Gift,
und nichts ist ohne Gift.
Allein die Dosis macht,
dass ein Ding kein Gift ist.“
Paracelsus