Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende. Manfred KrapfЧитать онлайн книгу.
ebenda, S. 12 (das folgende Zitat).
3 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Sozialbericht 2013, Bonn 2013, S. 2 (zukünftig: Sozialbericht …).
I. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland: Abriss zu seiner historischen Entwicklung seit 1949
Dieses Kapitel bringt einen historischen Überblick über die Entwicklung des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland von ihrer Gründung 1949 bis zur Wiedervereinigung bzw. zur zweiten Großen Koalition Merkel. Für die 40jährige Geschichte der Bundesrepublik bis 1989 wurde konstatiert, es sei die „größte Expansionsperiode des Wohlfahrtsstaats in der deutschen Geschichte“4 gewesen. Im Zuge der Wiedervereinigung seit 1990 wurde das System des westdeutschen Sozialstaates nahezu identisch auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ausgedehnt.5
Die 1949 neu gegründete Bundesrepublik war sozialpolitisch mit großen Herausforderungen wie den Kriegszerstörungen, der Wohnungsnot oder der Bewältigung des Flüchtlingszustroms konfrontiert: 7,9 Mio. Flüchtlinge aus dem Osten und 1,5 Mio. Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR strömten in die westlichen Zonen bis 1950 ein, dazu kamen noch 4,1 Mio. Kriegsopfer wie Invaliden, Witwen und Waisen, Opfer des NS-Systems, Evakuierte, Displaced Persons und 3,4 Mio. Kriegssachbeschädigte. Diese enormen Belastungen müssen vor dem Hintergrund der „katastrophalen Wohnungsnot“ und eines Systems der sozialen Sicherheit gesehen werden, das schwere Defizite in den Anfangsjahren wie vor allem eine verbreitete Rentnerarmut aufwies. Für die ersten Jahre der Bundesrepublik wird vielfach von einer Gründungskrise gesprochen, die durch Kriegs- und Diktaturfolgen, Mängel in der sozialen Sicherung und politischen Spannungen zwischen einem sozialdemokratischen Block und der konservativ-liberalen Bundesregierung gekennzeichnet war.6
„Im Anfang war Bismarck.“7 Die Sozialpolitik der neuen Bundesrepublik Deutschland basierte auf dem Fundament des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom damaligen Reichskanzler Bismarck geschaffenen Systems der sozialen Sicherung. Ordnungspolitisch hat die katholische Soziallehre mit dem zentralen Leitbegriff der Solidarität die Entwicklung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt. In der von 1949 bis 1966 „währenden heroischen ersten Phase ihrer Sozialpolitik“8 gelang der Bundesrepublik die Bewältigung der großen Kriegsfolgen, d.h. der krassen Not der ersten Nachkriegszeit, die Integration der Benachteiligten und die Entschädigung der enormen Verluste. Dass hierbei ein rapides Wirtschaftswachstum als eine wesentliche Erfolgsbedingung fungierte, sei nur kurz angemerkt. Zunächst sollte das 1950 verabschiedete Bundesversorgungsgesetz Entschädigung und Hilfe für die Kriegsopfer bringen. Des Weiteren wurden bis 1956 mittels eines umfangreichen Wohnungsbauprogrammes zwei Mio. Sozialwohnungen errichtet und die Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer gestartet.
Aber die „mit Abstand imponierendste Leistung“ bildete seit 1952 der Lastenausgleich zur Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft. Der Lastenausgleich erfolgte durch eine auf dem Sachvermögen basierende Abgabe, die über 30 Jahre gestreckt wurde und das Produktivvermögen nicht beeinträchtigte. Insgesamt wurden hier 140 Mrd. Mark umverteilt. Vertriebene, Flüchtlinge, Spätaussiedler, DDR-Flüchtlinge, Kriegssachbeschädigte usw. wurden entschädigt. Auch das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gehörte zur Bewältigung der Kriegsfolgen. „Entschädigung, Wiedergutmachung und Wiederaufbau“9 waren die Charakteristika des expansiven westdeutschen Sozialstaats in den 1950er Jahren gewesen.
Auf dem Gebiet der Sozialversicherung herrschte letztendlich Kontinuität, wenngleich die Alliierten zunächst durchaus Reformwillen in Richtung eines Systemwechsels zeigten. Infolge des Scheiterns der Viermächteverwaltung über Deutschland 1948 entschieden die drei westlichen Besatzungsmächte, dass die Deutschen selbst ihre Sozialversicherung neu ordnen sollten: „Die Neuordnung der Sozialversicherung obliegt den deutschen gesetzgebenden Körperschaften. Bis zu einer solchen Neuordnung sind die Versicherungsleistungen zu demselben Nennbetrag in Deutscher Mark zu bewirken, wie sie bisher in Reichsmark zu bewirken waren.“10 Das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik Deutschland hatte die Richtung der deutschen Sozialordnung basierend auf der Vorgabe des Artikels 20 noch „offen gelassen“. Der damals viel diskutierte Beveridge-Plan aus Großbritannien, der einen völligen Umbau des Systems der sozialen Sicherung unter Einbeziehung aller Bürger und einen steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienst sowie eine allgemeine Grundsicherung durch einen gemeinsamen staatlichen Versicherungsträger anvisierte, wurde nicht weiter verfolgt.
Eine an Überlegungen aus der Weimarer Republik orientierte Einheitsversicherung in Gestalt einer allgemeinen Staatsbürgergrundrente aus Steuermitteln anstelle der Beitragsfinanzierung, wie von SPD und Gewerkschaften zunächst angestrebt, fand in den Westzonen bzw. in der frühen Bundesrepublik demzufolge keine Mehrheit.11 Somit wird mit großer Berechtigung die „Restauration der Sozialversicherung als das „entscheidende Paradigma der sozialen Sicherung“12 in Deutschland hervorgehoben.
Nach der ersten Bundestagswahl 1949 verfolgte die neue Regierung Adenauer das Ziel, die traditionelle deutsche Sozialversicherung entschlossen zu verteidigen. Bereits 1951 wurde die aus der Weimarer Republik stammende Selbstverwaltung in der Sozialversicherung mit paritätischer Besetzung durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter wieder eingeführt und ein Jahr später ebenfalls anlehnend an den Vorgänger aus der Weimarer Republik die Bundesanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegründet. Die Trennung von Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung wurde beibehalten. Neben diesen Elementen der Kontinuität fanden sich neue Akzente wie die 1953 ins Leben gerufene Sozialgerichtsbarkeit. Beseitigt wurden völkisch-biologistische Konzepte aus der NS-Zeit im Bereich der öffentlichen Fürsorge.
Auch das System der Arbeitsbeziehungen wurde weitgehend restauriert: Noch vor der Gründung der Bundesrepublik beschloss der Wirtschaftsrat der Bizone 1948 das Tarifvertragsgesetz. Die Tarifautonomie wurde schließlich im neuen Grundgesetz verankert. Die in Weimar so umstrittene Zwangsschlichtung bei Arbeitskämpfen blieb außen vor. 1952 folgte das Betriebsverfassungsgesetz mit begrenzten Rechten ähnlich dem Gesetz von 1920 aus der Weimarer Republik und ein Jahr zuvor war die Montanmitbestimmung mit starken Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer beschlossen worden.
Eines der drängendsten Probleme in den Anfangsjahren der jungen Bundesrepublik war die weit verbreitete Altersarmut und noch Mitte der fünfziger Jahre galten die Sozialrenten als die „Achillesferse der sozialen Marktwirtschaft“13. Die Einführung der dynamischen Rente 1957, also die automatische Anpassung der Renten an die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung, behob diese unbefriedigende Situation nachhaltig.14 Erst die dynamische Rente ermöglichte eine Existenzsicherung mit Erhalt des Lebensstandards durch Anbindung an die allgemeine Lohnentwicklung. Die Rentenreform von 1957 war wahrscheinlich das „populärste Gesetz, das je in der alten Bundesrepublik“15 verabschiedet worden ist bzw. das „wichtigste Gesetz zum Ausbau der Sozialversicherung in der Bundesrepublik“16.
Diese „Richtungsentscheidung“17 von 1957 stellte eine „Epochenzäsur“ dar, die die gesetzliche