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Die große Zerstörung. Andreas BarthelmessЧитать онлайн книгу.

Die große Zerstörung - Andreas Barthelmess


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zu spät, durch ein deutsches Imitat namens »paydirekt« von den Sparkassen und Volksbanken verdrängen. Ich habe es schon gesagt: Größe bedeutet in der Plattformökonomie unüberwindliche Dominanz. The winner takes it all. Das Zeitalter der Disruption ist da. Sie stülpt die Welt um wie zuletzt die Industrialisierung, nur viel schneller und heftiger. Folgte im 19. Jahrhundert auf die technologische Revolution die ökonomische, dann die politische und darauf die kulturelle, so erfasst die Disruption heute all diese Bereiche zugleich. Im 19. Jahrhundert konnten sich die Menschen über Jahrzehnte an den Wandel gewöhnen. Jetzt ereignet er sich innerhalb weniger Jahre. So schnell mussten wir noch nie umlernen. Die digitalen Geister, die wir riefen, werden wir nicht los.

      Also: Nichts wird wieder werden, wie es einmal war. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Das ist leicht gesagt, doch wir tun uns verdammt schwer damit. Manchmal geht mir das auch so. Ich bin digital, hänge aber an der Offlinehaftigkeit der Achtzigerjahre. Davon heißt es jetzt Abschied nehmen. Nur nicht zu viel Nostalgie! Wenn ich in diesem Buch immer wieder zurückblicke, will ich zeigen, wie weit wir uns schon von den Achtziger- und Neunzigerjahren entfernt haben. Einen Weg zurück gibt es nicht. Und ein kleiner Hinweis an die ab 1995 Geborenen: Ihr werdet vielleicht manches, von dem hier die Rede ist, nicht verstehen. Aber »Gelbe Seiten«, »Luke Perry« und »Augusteischer Frieden« könnt ihr im Netz nachschlagen.

      Was ist zu tun? Die Traditionalisten bocken beleidigt vor der Gegenwart und leugnen die Disruption. Die Progressiven umarmen sie begeistert und werfen sich ihr manchmal allzu unkritisch an den Hals. Das Beste ist also, die Disruption kritisch zu umarmen. Denn nur so können wir sie in den Griff bekommen, politisch, ökonomisch und sozial. Was für eine Herausforderung, diese aufregenden Zeiten mitzugestalten! Die Frage ist nur: Wie tun wir das, ganz praktisch – individuell im Alltag, politisch in der Gesellschaft? Das ist die Frage, um die es mir geht.

      Am Anfang des Buches steht der Kontrast von Geschichte und Gegenwart: von technischem Fortschritt, den es immer schon gab, und unserer digitalen Gegenwart, die so radikal neu ist. Was, frage ich, hat unsere politische Kultur und Gesellschaft so tiefgreifend verändert? Woher unsere Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach Heimat? Worin liegt die Eigendynamik von Social Media? Was haben Tinder, Facebook und Instagram-Ästhetik mit der Politik zu tun?

      Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz? Woher kommt das Gefühl permanenter Überforderung, das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können? Ist uns die Welt zu groß geworden, ist sie alternativlos? Was ist das Winner-takes-it-all-Prinzip, und bedroht es die liberale Demokratie? Wenn uns die Datenplattformen überwachen, wer überwacht die Wächter? Was tun, wenn sich bald die politische Systemfrage stellt? Und hilft uns beim Weltretten die neue Achtsamkeits-App?

      Mit diesen Fragen befasse ich mich, bevor ich dazu im letzten Kapitel eine Reihe von konkreten Vorschlägen mache.

      Alle Fragen zielen auf die nahe Zukunft. Wer sie beantworten will, muss die Vergangenheit kennen. Schauen wir sie uns an.

      2 TECHNISCHER FORTSCHRITT, GLOBALISIERUNG UND DIGITALISIERUNG

      Disruption, so die These dieses Buches, ist überall. Sie ist das übergeordnete Geschehen unserer Gegenwart. Deshalb kennzeichnet sie heute nicht nur, wie es die ursprüngliche Verwendung des Wortes »Disruption« tat, Evolutions- und Marktphänomene, sondern alle Bereiche unseres Lebens: Politik und Gesellschaft, Freundschaft und Liebe, Kunst und Ernährung, Sport und Gesundheit, Partnerschaft und Sex.

      Alle diese Bereiche lassen sich unter einen weit verstandenen Begriff von »Kultur« fassen. Kultur ist, was wir Menschen aus dem machen, was uns unausweichlich vorgegeben ist. Aber was ist uns vorgegeben? Die Natur, wie viele Philosophen angenommen haben? Das Schicksal? Die göttliche Ordnung? Das Chaos?

      Mein Vorschlag lautet: der technologische Fortschritt. Er treibt uns an. Ja, richtig: Nicht wir treiben ihn an, sondern er uns – jedenfalls, nachdem wir ihn einmal angeschoben und in die Welt gebracht haben. Wie genau der technologische Fortschritt in die Welt kommt, wissen wir nicht, wohl aber, welche Eigendynamik er entfaltet, sobald er in Form einer Erfindung oder Entdeckung einmal da ist. Das Feuer zum Beispiel: Wahrscheinlich zuerst in die Höhle geholt, um zu wärmen, nutzte der Mensch es dann, um Fleisch und Grassamen zu garen. Das brachte ihn zum Getreideanbau, ließ ihn sesshaft werden, Kornspeicher errichten, Stadtmauern, Türme und Tempel. Ließ ihn Götter erfinden, Könige und das Bierbrauen – und am Ende die Schrift, um die Gesetze zu fixieren, die man für ein kultiviertes menschliches Zusammenleben braucht, besonders unter Alkoholeinfluss.

      Oder das Rad: Irgendwie kommen die Sumerer im 4. Jahrtausend vor Christus auf das Scheibenrad. Vier Stück an eine Kiste montiert und einen Ochsen davorgeschirrt, kriegen die Sumerer eine Wagenladung Gerste viel schneller zur Brauerei transportiert, als wenn sie sie schleppen müssten. Doch aus dem Rad lässt sich mehr machen als nur ein Bierwagen. Eine clevere bronzezeitliche Steppenkultur ersetzt die Scheibe durch Speichen, baut einen zweirädrigen Renn- und Streitwagen und spannt Pferde davor. Dieses Gespann macht im 13. Jahrhundert vor Christus bei Hethitern, Assyrern und Ägyptern Kriegskarriere, verschiebt Reichsgrenzen oder radiert sie aus.

      So kommt es schon früher zur Globalisierung, als der Begriff vermuten lässt. Denn Globalisierung ist ja nichts anderes als die wachsende Vernetzung über eine zunehmende geografische Distanz hinweg. Als gradueller, kontinuierlicher Prozess verläuft sie parallel zum technischen Fortschritt. Zugleich unterstützt sie ihn bei seiner Verbreitung. Das Rad hat auch deshalb eine so zentrale Rolle gespielt, weil es weitere Innovationen angestoßen und ermöglicht hat: den Straßenbau etwa, der wiederum verstärkten Handel bringt.

      Historisch haben wir uns daran gewöhnt, den Beginn der Globalisierung in der frühen Neuzeit anzusetzen. 1488 entdecken die Portugiesen am Kap der Guten Hoffnung den Seeweg nach Indien, 1492 erreicht Kolumbus, ebenfalls auf der Suche nach Indien, Amerika: Das Zeitalter von globalem Überseehandel und kolonialer Ausbeutung beginnt. Tatsächlich jedoch findet Globalisierung schon seit Jahrtausenden statt. Alexander der Große bringt die griechische Kultur nach Indien. Die Römer bauen das erste Straßennetz, das die gesamte ihnen bekannte Welt umspannt. So konnten sie über eine Distanz von 5000 Kilometern einen Brief von Babylon nach Londinium schicken. Infrastruktur schafft Mobilität, vernetzt und entgrenzt. Schon in der Antike bezog China über die Seidenstraße römisches Glas, Rom importierte chinesische Seide.

      Was heißt das für den Menschen? In dem Maße, wie die Welt kleiner wird, wächst sein Bezugssystem, also der soziale, kulturelle, ökonomische und politische Bezugsrahmen. Das ist eine der Grundannahmen dieses Buches: Im Zuge des technischen Fortschritts erweitern sich diese menschlichen Referenzsysteme. Die Tendenz zur Globalisierung hatten sie dabei immer schon. Dennoch wird die globale Dimension erst in der Neuzeit sichtbar. Das wiederum hat mit einer zweiten Grundannahme dieses Buches zu tun: der Beschleunigung. Wenn distanzverkürzende Medien wie Rad und Straße die Überwindung des Raumes bewirken, dann schlägt sich dieses Schrumpfen des Raumes als Beschleunigung auf der Zeitachse nieder. Anders gesagt: Wenn die Straßen in Schuss sind und alle paar Dutzend Kilometer frische Pferde bereitstehen, kommt der Brief aus Babylon schneller in London an.

      Die Menschheit schreitet also immer schneller voran. Anfangs sieht das stetig linear aus, tatsächlich jedoch befinden wir uns in einer exponentiellen Funktion. So besagt etwa das in den 1960er-Jahren formulierte sogenannte Moore’sche Gesetz, dass sich die Rechenleistung von Computerprozessoren alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Nach einem Zyklus ist die Leistung doppelt so hoch wie zuvor, nach zwei Zyklen viermal, nach drei achtmal, nach vier 16-mal, nach fünf 32-mal und so weiter: exponentielles Wachstum eben. Wir kennen den Graphen dazu noch aus der Schule. Erst bewegt er sich mit kaum wahrnehmbarer Steigung quälend langsam, anscheinend linear auf der Y-Achse hoch. Endlich, da hat man schon drei Viertel der X-Achse hinter sich, nimmt er ein bisschen Fahrt auf, jetzt geht es langsam los nach oben – und, rums, ist der Graph schon fast senkrecht durch die Decke geschossen.

      Das liegt auch an den supraleitenden Prozessoren, die künftig zum Einsatz kommen werden. Früher kannte jedes Bit nur zwei Zustände, 0 oder 1. Heute arbeiten Quantencomputer wie Sycamore von Google bereits mit sogenannten Qubits, die, einfach gesagt, viele verschiedene Werte annehmen können. Operationen, für die klassische Computer noch mehrere Hundert Jahre gebraucht hätten, rechnen Quantencomputer binnen


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