Himmlisches Herzflüstern. Michael StahlЧитать онлайн книгу.
und hoffte, dass es spätestens dann allen leidtun würde, was sie mir all die Jahre angetan hatten.
Mitten in meinen traurigen Gedanken vernahm ich ein Flüstern tief aus und in meinem Herzen: „Lebe weiter, ich habe noch viel mit dir vor!“ Hoffnung keimte in mir auf, der Same für ein neues Leben. Es begann etwas, auch wenn es noch ganz fein und zart war. Aber es trug den Willen zum Leben in sich, und dadurch war es unüberwindbar stark.
Ich konnte niemandem davon erzählen, nicht einmal Onkel Heinz. Der Augenblick war zu intim gewesen; so tief konnte ich keinen in mein Herz blicken lassen. So ahnte niemand etwas von meinem Erlebnis auf den Bahngleisen, und der Alltag schien einfach seinen Fortgang zu nehmen. Aber Gott hatte seine Hand auf mich gelegt, und das war nicht mehr rückgängig zu machen.
***
Mein Onkele blieb weiterhin mein Mentor. Er brachte mir viele Spiele bei, wie Schach, Dame oder Mühle. Über tausend Themen unterhielten wir uns. Er war ein Stück weit der Vater, den ich mir immer gewünscht hatte, und auch mein Freund. Und immer wieder zeigte er mir, wie man am besten kämpft. Ja, er hatte selbst viel kämpfen und die harte Realität des Krieges erleben müssen. Von sich persönlich erzählte er fast nie etwas, außer einmal. In tiefem Schmerz erzählte er mir, sein bester Freund sei von einer Granate getötet worden. Wortwörtlich sagte er mir, er habe „seine Überreste von der Straße gekratzt“.
Es war nur ein kurzer Einblick – für einen Bruchteil öffnete er seine Herzenstür, um sie gleich wieder zu verschließen. Er konnte sich diesen Schmerz nicht anschauen und auch niemanden teilhaben lassen; es war zu schwer. An dieser Stelle war sein Herz zerbrochen.
Diese intensive Zeit mit meinem Onkel erlebte ich von meinem fünften bis zum vierzehnten Lebensjahr; danach zogen wir in den Nachbarort. Doch diese Zeit hatte mich für ein ganzes Leben geprägt.
Einmal vertraute ich ihm an, dass mich mein Vater wieder verdroschen hatte, und er stellte ihn daraufhin zur Rede. Da war jemand, der sich für mich stark machte, der auf meiner Seite stand. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern. Als ich dann mit meinem Vater ganz allein war, erlebte ich eine kaum zu beschreibende Kälte. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis er mich dann wieder verdrosch, diesmal schlimmer als gewohnt, da ich ihn in seinen Augen vor meinem Onkel lächerlich gemacht hatte. Ja, es war schlimm; doch das Gefühl zu erleben, dass jemand für einen kämpft, war unbeschreiblich. Es war ein Liebesbeweis. Liebe, ja darum geht es in unserem Leben. Liebe, die wir zu wenig bekommen haben oder die wir zu wenig gegeben haben. Dies macht unsere Herzen schwer und traurig.
Heinz brachte mir viele Dinge bei, auch wie wichtig der wertvolle Umgang mit Geld ist. Er motivierte mich, für die älteren Leute einkaufen zu gehen und zu arbeiten. Dadurch bekam ich mal hier eine Mark und mal da ein paar Pfennige. Was tun damit? Heinz meinte: „Jetzt brauchst du ein Sparbuch, und lass das Geld wachsen.“ Ich habe lange nicht verstanden, wie Geld wachsen sollte. So legten wir ein Sparbuch an.
Irgendwann hatte ich stolze 76,50 DM auf dem Konto. Ich fühlte mich so reich. Ich hatte etwas geleistet und nun mein eigenes Geld. Ich werde nie den Tag vergessen, als ich meinem Vater nach einem Streit hochnäsig mitteilte, ich würde mehr arbeiten als er und hätte sogar mein eigenes Sparbuch. Nie, nie, nie vergesse ich seinen Blick und seine Worte: „Nein, du hast gar nichts!“ Ja, er hatte mein Sparbuch geplündert. Eine Welt brach für mich zusammen.
Es schmerzt mich heute nicht mehr, da Papa und ich uns 2007 durch die Gnade Jesu Christi vollkommen versöhnen durften. Doch damals war ich wieder mal gebrochen worden. Heinz war wütend, doch sagte er nichts zu meinem Vater. Die Konsequenzen hätte sonst wieder ich spüren müssen. Stattdessen versteckten wir mein verdientes Geld ab dieser Zeit in einer kleinen Zigarrenblechdose. Wir versteckten sie so gut in der Gartenlaube, dass wir sie nie wiedergefunden haben. Irgendwo in meinem geliebten Dörfchen schlummert eine kleine Blechdose mit etwa 20 Mark in Kleingeld …
***
So vergingen die Jahre. Meine Besuche wurden rar, denn ich war mehr in der Welt unterwegs als in meiner Heimat. Der Schmerz trieb mich, und ich fand kaum Ruhe. Irgendwie war ich auf der Flucht vor meinem Vater und versuchte gleichzeitig, ihn auch irgendwie stolz auf mich zu machen. Ich durchlebte Obdachlosigkeit, von der kaum jemand wusste. Ich war ein Getriebener. Mein Herz versteinerte sich täglich mehr. Mein Onkel erkannte meinen Schmerz und fragte mich eines Tages, es muss wohl etwa 2005 gewesen sein: „Was machst du eigentlich, wenn dein Vater eines Tages stirbt?“ Kalt gab ich ihm zur Antwort: „Na und, wir alle müssen mal sterben.“
Ich konnte ihm mein Herz nicht zeigen. Er kämpfte selbst mit sich und konnte mir auch seines nie richtig offenbaren. Später erfuhr ich, dass er selbst ohne Papa aufgewachsen war, doch hatte er nie darüber gesprochen.
Obwohl er seit 60 Jahren auf der Schwäbischen Alb wohnte, sprach er stets mit „Berliner Schnauze“. Oft diskutierten wir über das Universum, die Sterne, über Religionen und vieles mehr. Er war der Meinung, es sei egal, an was man glaube; Hauptsache, man sei ein guter Mensch. Wir ließen es dabei, nie entstand dadurch Streit. Ein paar Monate bevor er starb, begann mein Onkel mich viele Dinge zu fragen. Ähm, was war da los? Wikipedia und Google, mein persönliches Lexikon, stellte mir Fragen? Oft fingen seine Fragen mit „warum“ an. Wenn unser Pfarrer zu Besuch kam, hörte er mehr und mehr aufmerksam zu und genoss es, gesegnet zu werden. In dieser Zeit hat er ziemlich oft gefroren. Mein Onkel zeigte Schwäche, das kannte ich fast gar nicht von ihm.
2006 lernte ich meine zweite Frau kennen. Ich kannte es bis dahin nicht, dass Menschen sich in den Arm nehmen. (Nach der Versöhnung mit meinem Papa mussten er und ich noch fast zwei Jahre trainieren, wie das mit dem In-den-Arm-Nehmen geht.) Meine Frau jedoch umarmte Tante Elfriede und meinen Onkel Heinz bei jeder Begrüßung und bei jeder Verabschiedung ohne Zurückhaltung. Das beobachtete ich und sehnte mich auch danach, so locker damit umgehen zu können. Ja, ich war ein wirklich verletzter und kaputter Typ (und stehe immer noch in einem Heilungsprozess). Wenn ich meinen Onkel bei Verabschiedungen drückte, dann eher flüchtig. Doch unsere Sehnsucht, seine und meine, war viel größer.
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Er wurde älter, schwächer und nachdenklicher, und ich durfte ihm schließlich von der besten Botschaft der Welt berichten: dass Gott in seinem Sohn zu uns gekommen war, um uns von aller Schuld freizumachen; dass Jesus alle Antworten auf alle Warum-Fragen kennt; dass Jesus selbst die Antwort ist; dass Gott unsere verletzten Herzen gesundlieben möchte. Aufmerksam saugte er jedes Wort in seinem Herzen auf.
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Eines Abends, als ich zuhause war, klingelte das Telefon. Wenn du es gestattest, nehme ich dich jetzt einfach mit in die damalige Gegenwart:
Tante Elfriede ist am Apparat, und sie ist panisch: „Komm schnell! Heinz ist schwer gestürzt!“
Hastig renne ich zum Auto und fahre los. Mein Herz ist aufgeregt und schwer zugleich. So rase ich die kurze Strecke, um dem zu Hilfe zu eilen, der mir selbst so oft zur Seite stand.
Weinend und völlig aufgelöst öffnet meine Tante die Tür. Da sitzt er, mein Onkel Heinz, auf dem Fußboden des Wohnzimmers, neben seinem wunderschönen Aquarium. Schwach und zerbrechlich sieht er aus, der Mann, der für mich Ali, Bruce Lee und Bud Spencer sowie Wikipedia in einem verkörpert.
Er ist die Treppe hinuntergefallen und trotz all seiner Schmerzen ins Wohnzimmer gekrabbelt. Nun sitzt er aufrecht auf dem Fußboden und zeigt Haltung, trotz allem.
„Ich rufe den Notarzt!“ sage ich.
„Nein!“, schreit meine Tante, „dann kommt er nie wieder nach Hause!“
Mein Onkel schaut mich an. Ich sehe so unendlich viel Vertrauen in seinem Gesicht. „Wenn du meinst, dann mach das“, flüstert er mir zu.
Meine wunderbare Cousine kommt dazu, und wir beide tun, was zu tun ist. Immer wieder schreit meine Tante: „Keinen Notarzt, sonst kommt er nie wieder nach Hause!“
Der Rettungsdienst kommt und die Sanitäter bringen meinen Onkel in den Rettungswagen. Bevor sie abfahren, schließt einer der Sanitäter die Tür und sagt: „Vermutlich Oberschenkelhalsbruch. Die alten Leuten kommen selten wieder, nur zur Info …“ Die Worte treffen mich bis