Stiefelschritt und süßes Leben. Klaus MullerЧитать онлайн книгу.
zwischen Ueckermünde und Prenzlau und waren Wehrpflichtige wie ich.
Lenin war ein scharfer Pamphletist, hielt sich kaum mit volkswirtschaftlichem Zahlenwerk auf wie etwa Karl Marx (allein das „Kapital“ macht fast ein Viertel seines Werkes aus). Lenin zerschmetterte mit Worten seine Gegner; er liest sich daher abwechslungsreicher als Marx. Seine Artikel und Pamphlete über einzelne Begebenheiten seiner Zeit (Gedanken zum Russisch-Japanischen Krieg, der imperialistischen Politik des Deutschen Kaiserreiches, der Zimmerwalder Konferenz) sind interessant und die Gedanken Lenins zur Lage der russischen Bauern beeindruckend. Zu einer tieferen Erkenntnis oder gar einer Überzeugung von der kommunistischen Ideologie leninistischer Prägung fand ich hingegen nicht angesichts des daraus hervorgegangenen Sowjetsystems.
*
Nach meiner Entlassung aus der Arrestanstalt und vor dem Beginn meines Resturlaubs, den ich nun herbeisehnte, da er quasi mit meinem Weggang von der Armee identisch sein würde, trat ein Ereignis ein, das mich, wenngleich es völlig unbedeutend war, noch heute tief beschämt. Es fand eine sogenannte „Volkswahl“ zur „Volkskammer“ statt.
Gemäß Ulbrichts Devise, die dieser gleich nach seiner Einsetzung als sowjetischer Satrap in der Sowjetzone im Juni 1945 herausgegeben hatte: „Es soll demokratisch aussehen, aber wir müssen immer alles in der Hand behalten“, wurden diese „Wahlen“ mit Einheitslisten durchgeführt. Sie hießen später auch im Parteijargon „Stimmabgabe“.
Ich erinnere mich, als 18-jähriger „Jungwähler“ 1959 einmal einen Stimmzettel in eine dieser Urnen geworfen zu haben. Nach dem Mauerbau allerdings habe ich mich an „Wahltagen“ immer verdrückt, war einfach nicht aufzufinden, wenn die „Wahlschlepper“ die säumigen Stimmabgeber von daheim abholten.
Hier nun stand ich unter militärischem Kommando, da hieß es: „Batterie, stillgestanden! Zur Stimmabgabe erste Linie links um, im Gleichschritt, Marsch!“
Fazit meiner NVA-Zeit
Mitte Oktober trat ich meinen 14-tägigen Resturlaub an, brauchte nur noch am Entlassungstag in Eggesin zu erscheinen, um die NVA-Klamotten abzugeben und den Entlassungs-Laufzettel abzeichnen zu lassen. Das letzte Mal in NVA-Uniform mit dem Zug durch Berlin – und dann weiter nach Dresden. Das war die gefährlichste Strecke, denn hier fuhren oft Dresdner, die mich kannten.
Wieder schlich ich nachts durch den Großen Garten in die Winterbergstraße, riss daheim die Uniform vom Leibe und verstaute sie in einem Beutel, damit sie ja niemand sah, der eventuell zu Besuch käme.
Als ich an einem der nächsten Tage in meinem Maßanzug wieder in der „Kakadu-Bar“ aufkreuzte, war meine Freude groß. Wer lief da adrett mit Servierschürzchen, Servierhaube und Tablett, kokett nach strammen Burschen ausspähend, durchs Revier? Margot aus Gera!
Der Tiefpunkt meiner Jugend, nun kann ich sagen, meines ganzen Lebens, war überwunden, und das pralle Leben konnte fortfahren.
Am Entlassungstag mache ich es wie die anderen, nahm den Nachtzug, der mich um 6.00 Uhr nach Eggesin brachte. Noch vor Mittag war die Entlassungsprozedur vorüber.
„Mölli“ verabschiedete sich von jedem Einzelnen mit Handschlag, Spröter drehte sich nur wortlos um, als sich Mölli ihm näherte und ging einige Schritte in Richtung Ausgang. Mich übersah Mölli zuerst, wollte sich aber dann, als die Entlassenen aus der Kaserne traten, doch noch von mir verabschieden. Ich sagte: „Herr Mölscharek, ich möchte mir Ihnen und Ihrer Armee nie mehr etwas zu tun haben!“
Auf der Heimreise im Zug dachte ich, was haben diese anderthalb Jahre gestohlener Zeit gebracht? Bruni hatte ich verloren, und mein Sohn wuchs in einer Familie auf, in die hineinzudrängen mich zum Störenfried gemacht hätte. Nur der perfekte Umgang mit der Kalaschnikow wäre ein mageres Äquivalent dazu.
Es hatte sich aber ein militärisches Denken in meine persönliche Lebensführung eingegraben: taktischer, operativer und strategischer Art. Wichtige Vorhaben, die sich ja bei mir auch meist am Rande der sozialistischen Legalität bewegten, sind fürderhin immer mit exakter militärischer Planung, bei Einhaltung absoluter Konspiration, einhergegangen; Aufklärung betreiben, Rückzugsmöglichkeit gewährleisten, Ausweichmöglichkeit erkunden, Reserven bereitstellen und dann die Hauptaktion mit aller Wucht und Courage in der Hauptstoßrichtung durchführen. Dass man Schlüssel, Dokumente und passendes Geld immer am Mann zu haben hat, das wusste ich schon vorher. Die wichtigsten militärischen Tugenden: Disziplin, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit, im privaten Leben praktizierte ich sie nun täglich, sie wurden mir zur zweiten Natur.
Meine persönliche Mobilität – im Rahmen der DDR-Verhältnisse – ständig zu bewahren, nahm ich mir nun fest vor. Dazu gehörte vor allem Liquidität, gehörte aber auch, stets reisefertig gepackte Koffer unterschiedlicher Größe für verschiedene Anlässe (meine „Sturmgepäcke“) parat zu haben. Den Traum von der Schlossvilla an den Elbhängen vergaß ich für lange Zeit. Jetzt erst wurde mir die ganze lebensphilosophische Tiefe von Thomas Manns Sentenz klar: „Soldatisch leben, doch nicht als Soldat!“
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