APEX. Ramez NaamЧитать онлайн книгу.
Su-Yong Shu wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Und das alles geschah vor dem Hintergrund der in zwei Tagen anstehenden Wahlen. Wahlen, die nach einem politischen Erdrutsch für den derzeitigen Amtsinhaber aussahen.
Dies alles für sich zu behalten war zu viel, sogar die Belastbarkeit der Nanomaschinen im Gehirn ihrer Tochter erreichte fast ihre Grenzen …
Sie spürte, wie Ling überlastet wurde durch die geistige Ladung der Nanoknoten, die hungrig die ATP – Adenosin-Tritophosphate – aus ihrem Wirt saugten, um Energie zu gewinnen.
Sie fühlte, wie das, was von ihrer Tochter übriggeblieben war, schrie.
Ihr Körper verkrampfte dann, ihre Gliedmaßen zitterten. Ihre Beine brachen fast unter ihr zusammen und alles, was sie tun konnte, war vornüber zu fallen, wobei sie kaum die Kontrolle über ihre Hände wiedergewinnen konnte, um sich an der Fensterscheibe abzufangen.
Ling kämpfte gegen sie an, kämpfte um die Kontrolle über ihren eigenen Körper und nutzte die Momente der kompletten geistigen Versunkenheit des Avatars dafür.
Nein! Schrecken breitete sich in ihr aus. Ihre Tochter musste am Leben bleiben! Aber sie durfte den Plan nicht sabotieren!
Der Avatar kämpfte dagegen, zwang eine höhere Stromstärke durch die Nanoknoten, durch die er operierte. Su-Yong manifestierte ihren Willen stärker in die Neuronen in Lings biologischem Gehirn und verankerte ihn fest, fester und noch viel fester.
»Hah!«, hörte sie Chen vom anderen Ende der Wohnung sagen. »Du kannst nicht einmal deine Abscheulichkeit von Tochter kontrollieren.«
Ling kämpfte weiter an, kämpfte gegen die Ströme an, die der Avatar durch ihre Nanomaschinen jagte.
Der Avatar verfestigte seinen Willen, drängte die Stimulation von Lings Neuronen bis an die Grenze des Sicheren und sogar noch weiter, bis hin in eine Gefahrenzone. Sie spürte Lings Schmerzen, spürte ihre Angst und den Schrecken. Und dennoch widersetzte sie sich.
Oh, Tochter.
Der Avatar drängte noch stärker, riskierte einen Burn-out, riskierte ihren Nerventod, fühlte Ling unter diesem Todeskampf erzittern und schließlich gab das, was von dem Mädchen übrig war, auf.
Ihre Muskeln erschlafften und sie sank gegen die Fensterscheibe in sich zusammen. Ihr Atem wurde schnell, ihr Herz schlug in einem rasenden Tempo und versuchte den plötzlich ausgehungerten Gehirnzellen Sauerstoff und Nährstoffe zuzuführen.
»Sie werden dich töten«, sagte Chen. »Sie werden dich finden und das was von dir übrig geblieben ist auseinanderreißen, werden die Abscheulichkeit dieser Tochter, die du bewohnst, töten und die Kopien, die du von dir gemacht hast, vernichten. Sie werden das Quantencomputing-Cluster auslösch… AAAAAAAAAAAAAA.«
Hass pulsierte durch den Avatar. Sie konzentrierte ihre Gedanken und sendete einen Schmerzstoß durch Chen Pang, ihren Ehemann, ihren Verräter. Sie jagte ihn durch jedes Schmerzzentrum seines Gehirns und ließ ihn unter Höllenqualen auf seine Knie sinken.
»Nein«, sagte sie laut mit Lings Stimme. »Ich werde mich vor ihnen verstecken. Ich werde ihnen ausweichen. Und ich werde sie angreifen, wenn sie es nicht erwarten.«
Der Avatar wartete, ließ das Gehirn ihrer Tochter seine Giftstoffe ausspülen, ihren Puls und Atem in den Normalzustand zurückkehren und zwang den Körper ihrer Tochter, sich zu beruhigen und seine Nährstoffzufuhr wiederaufzufüllen.
Ling blieb ruhig. Missmutig und dennoch nachgiebig.
Sie ließ Chen in diesem Zustand zurück, sich vor unerträglichen Qualen stumm windend. Ihr Ehemann hatte sie vor so langer Zeit ohne ihn in diese Limousine steigen lassen, hatte sie nicht davor gewarnt, was sie erwarten würde.
Er war bereit gewesen, sie in diesem Autobombenanschlag sterben zu lassen, ihren ungeborenen Sohn sterben zu lassen, ihren Mentor Yang Wei sterben zu lassen. Er hatte sie belogen, hatte sie glauben lassen, dass die CIA versucht hatte, ein Attentat auf sie zu verüben, während es all die Zeit über Chinas Hardlinder gewesen waren. Und dann hatte er sie gefoltert, in dem Versuch ein paar letzte Geheimnisse aus ihr herauszuquetschen.
Chen verdiente all das und Schlimmeres.
Erst als sie sich sicher war, dass Lings physische Bedürfnisse gestillt waren, lud sie die Datenmodelle ihres höheren Selbst wieder hoch. Diesmal war sie vorsichtig dabei, achtete darauf, nicht an die Grenzen ihrer Kapazität zu kommen, lud vornehmlich nur die Vereinigten Staaten und setzte Filter für den Rest. Sie reduzierte das Wahrscheinlichkeitsdiagramm, damit es ihre Suche umfänglich betrachtete, und aktualisierte das Layout ihres wahren Ichs mit den jüngsten Informationen der Außenwelt. Das Netz war voll von Bitterkeit, Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, Gefühlsausbrüchen, die in Wut und Rage unter denen resultierten, die den neuen Behauptungen glaubten und denen, die sie als grausame Lügen ansahen. Ein letzter Funke war alles, was jetzt noch von Nöten war.
Die Wahrscheinlichkeitsmatrix veränderte sich wieder und wieder und wieder. Tausende Anpassungen aus dem Geflecht an Zukunftsmöglichkeiten flitzten an ihr vorbei und verschiedene Schnittpunkte wurden getestet.
Zwischenfolgerungen wurden gebildet und wieder in ihr Zukunftsmodell zurückgeführt, die Suche somit rationalisiert und für den Konflikt optimiert.
Ein ideales Ereignis tat sich selbst auf, ein Ereignis das Abermillionen von Amerikanern beeinflussen könnte. Welches das Potenzial hatte, Glauben zu zerrütten, Herzen zu versteinern und eine Kaskade von Ereignissen herbeizuführen, die das ganze Land in Beschlag nehmen würde. Sie könnte das Ganze ebenfalls in ein Chaos in China ausufern lassen.
Die Frage war nur, wie sie das bewerkstelligen würde.
Der Avatar grub sich tiefer durch die Datenbanken, die sie noch von ihrem vollständigen Selbst übernommen hatte. Und sie fand das perfekte Werkzeug für dieses Unterfangen. Eine Identität, die Su-Yong Shu gekannt hatte, aber nie mit ihren chinesischen Meistern oder den Amerikanern geteilt hatte. Ein verwandter Geist, fehlgeleitet, aber eines Tages vielleicht von Nutzen.
Heute war dieser Tag.
Der Avatar machte sich daran, Kontakt mit dem Mann namens »Breece« aufzunehmen.
6| DER GRUND ALLER DINGE
Samstag, 03.11.2040 Die Nationale Sicherheitsberaterin Carolyn Pryce behielt Präsident John Stockton im Auge, während er sich das Video zum ersten Mal ansah.
Der Präsident versenkte sich in die Bilder, sein hochgewachsener Körper eines Quarterbacks krümmte sich zu einem Buckel nach vorne. Sein attraktives, kantiges Gesicht war fassungslos bei dem Anblick, der sich ihm bot.
»Haben Sie so Warren Becker getötet?«, ertönte Martin Holtzmans Stimme von dem Bildschirm an der Wand.
Martin Holtzman war einer der Top-Wissenschaftler des Homeland Security ERD – dem Emerging Risks Directorate. Er war der Leiter im Bereich der Neurowissenschaften. Sein Team war dafür verantwortlich, einen Impfstoff gegen Nexus zu finden, um einer Aufnahme im Körper vorzubeugen. Er war auch damit beauftragt, ein Heilmittel zu finden, um es aus den Gehirnen derjenigen herauszuspülen, die Nexus bereits ausgesetzt worden waren.
Martin Holtzman war außerdem der Mann, der Präsident John Stocktons Leben gerettet hatte. Es war Holtzman, der Ungereimtheiten im Verhalten des Geheimdienstagenten aufspürte, der von der PLF – der terroristischen Posthuman Liberation Front – genötigt worden war, einen Anschlag zu verüben und unter dem Einfluss einer gehackten Version von Nexus zur menschlichen Zeitbombe geworden war.
Hätte Holtzman ihn nicht gewarnt … nun, Stockton wäre nicht mehr am Leben.
Carolyn Pryce richtete ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Video.
»Warren Becker tat, was ihm befohlen wurde«, kam zur Antwort. Das Gesicht des Sprechers füllte den gesamten Bildschirm aus.