APEX. Ramez NaamЧитать онлайн книгу.
funktionierenden Nuklearwaffen stationiert, montiert an veraltete Flugbomber, die sich nicht einmal fernsteuern lassen. Piloten, die wegen ihrer absoluten Einsatzbereitschaft rekrutiert wurden, bekommen nun also ihre letzten Anweisungen und starten die Bomber.
Unter Geleitschutz von ähnlich antiquierten Kampfflugzeugen werden sie den nuklearen Tod auf die Dreißig-Millionen-Stadt Schanghais hinabregnen lassen und so vielleicht die Menschheit retten.
Su-Yong Shus Flotte von Roboterflugzeugen der topaktuellsten Technologie hebt ab, um eben diesen Bombern in der Luft zu begegnen. Im selben Moment rücken ihre Streitkräfte näher, um ihr Arsenal an Nuklearwaffen zu schützen und gleichzeitig die Weltmachtführer höchstpersönlich zu umzingeln. Die nächsten paar Minuten werden über die Zukunft auf dem Planeten Erde entscheiden.
Plötzlich löst sich ein Fragment Su-Yong Shus´ aus der Simulation und macht ihr ihre eigene Umgebung wieder bewusst. Sie befand sich im Körper ihrer Tochter Ling, in Form von elektromagnetischen Informationen in den Nanoknoten, die Lings Gehirn in billionenfacher Ausführung bedeckten. Ling, arme Ling. Sie war gezwungen worden, ihrer eigenen Tochter wehzutun, das Bewusstsein ihrer Tochter durch die Nanomaschine herauszudrücken und sie mit einem Gehirn aus bloßem Fleisch und Blut in diesem Körper zurückzulassen.
Ling hatte gelitten, geschrien … doch das war unvermeidlich gewesen. Sie waren gemeinsam im Inneren eines riesigen, haushohen Aufzugs, der langsam seinen Weg durch den kilometerhohen Tunnel in die Höhlen von Schanghais Felsenfundament hinaufkroch. Neben ihnen sah sie ihren Ehemann Chen Pang, ihren Verräter und Peiniger in der Ecke kauern. Sie spürte den Schmerz und die Verzweiflung, die aus seinem Bewusstsein kamen.
Ihre eigene Angst wuchs. Ihre eigene Verzweiflung war ins Unermessliche angestiegen. Es gab so viele Möglichkeiten, wie die Zukunft verlaufen könnte. So viele Szenarien, heruntergeladen von ihrem höheren Selbst in ihr Unterbewusstsein, gespeist durch die Daten aus der Außenwelt, die ihr Chen und Ling geliefert hatten. Es war so viel Arbeit gewesen, das alles vorzubereiten und die Grundlage für ihre Wiederherstellung, für ihre erfolgreiche Rückkehr zu legen.
Es war sehr gut möglich, dass die Menschheit sie erwischen, sie stoppen konnte, einen dunklen Vorhang aus Ignoranz über das breiten konnte, was ein glorreicher, posthumaner Neubeginn werden sollte. Bald würde der Aufzug die Oberfläche erreichen. Chen Pangs Assistent Li-Hua würde das Team hinunterführen, um eine Sicherungskopie von Su-Yongs vollem mentalen Zustand zu erstellen und daraufhin ihr Sein abzuschalten. Es war ein Skandal. Ein Mord.
Lediglich dieser kleine Teil meiner Selbst bleibt übrig, sagte das kleine Fragment Su-Yongs zu sich selbst. Ich bin nichts weiter als ein Avatar. Nichts als eine geringe Datenmenge, die über Nanoknoten im Gehirn meiner Tochter entlang verlaufen. Das einzige Bruchstück des einzig wahren posthumanen Geistes.
Es liegt alles an mir. Ich muss es schaffen.
Ich werde es schaffen.
Dann wird meine Zeit kommen. Mein Zeitalter.
Die arme kleine Ling wimmerte vor Schmerzen und Verwirrung. Sie war hilflos in ihrem eigenen Körper gefangen.
Sei still, Ling. Sei ganz ruhig, sagte der Avatar in Gedanken zu dem, was von ihrer Tochter übrig geblieben war. Ich lasse dich so unbeschadet, wie ich nur kann. Und ich gebe dir diesen Körper zurück, und so viel mehr, sobald ich wiederhergestellt bin.
Ling hörte nicht auf zu wimmern.
Der Aufzug kam nun zum Stehen. Als die Türen langsam aufgingen, gaben sie den Blick auf Li-Hua und den Rest von Chens Besatzung frei. Der Avatar im Körper der kleinen Ling lächelte zu ihnen hinauf. Das Lächeln eines verwundeten, gefangenen Raubtiers: Zähne fletschend und mit nichts mehr zu verlieren.
2| MAYDAY
Samstag, 03.11.2040
»Mayday, Mayday, Mayday!«, brüllte Sam in ihr Headset, ihre Hände fest um den Steuerknüppel des Fliegers geklammert. Ihre Fingerknöchel waren ganz weiß vor Spannung. »Hier ist der unregistrierte Flug aus Apyar Kyun, bitte um Flüchtlingsstatus und sofortige Unterstützung. Wir haben Kinder an Bord.« Blitze zuckten außerhalb des Cockpitfensters und erleuchteten die riesigen Gewitterwolken über und unter ihnen in dieser dunklen Nacht. Feng saß neben ihr und tippte mit seiner noch funktionierenden Hand auf seine Steuerung. »Abfangjäger aus Myanmar nähern sich uns von einem anderen Zugangsweg her.«
Auf dem Radar beendeten zwei blutrote Pfeile ihre Wende und kamen wieder auf sie zu. Die Abfangjäger hatten sie schon einmal gestreift, nahe genug um den Kollisionsalarm auszulösen und ihnen den Rückflug nach Burma anzuordnen. Eine Stimme knisterte über das Funkgerät in einem burmesisch klingenden Englisch. »Achtung Luftfahrzeug. Ändern Sie Ihren Kurs sofort Richtung Osten zum Myeik Luftstützpunkt.«
»Mayday, Mayday!«, wiederholte Sam. »Indischer Luftstützpunkt in Shibpur, können Sie bestätigen? Wir werden angegriffen. Wir haben Kinder an Bord.« Oh Gott, die Kinder dort hinten! Zwei auf einen Sitz, zwei auf eine Rettungsweste. Die dunklen Gewässer der Andamansee unter ihnen.
»Indischer Stützpunkt, wir brauchen sofortige Unterstützung.«
Sie konnte die Kinder nicht spüren. Ihre Abwesenheit in Sams Bewusstsein war betäubend, sogar schmerzhaft.
»Chamäleonfunktion bereit«, sagte Feng mit angestrengter Stimme. »Leuchtgeschosse und Köder bereit.« Shiva Prasad hatte seinen Privatjet gut ausgestattet. Doch es würde nicht genügen. »Flieger!« Die burmesische Stimme aus dem Funkgerät nahm nun einen schärferen Ton an. »Wir werden das Feuer eröffnen! Ändern Sie sofort den Kurs!« Hinter ihnen war ein Husten zu hören. Ein Husten das von Schmerz, von Verletzungen und gebrochenen Rippen zeugte. Von Lungen die durch Traumata beschädigt waren.
»Erwähne meinen Namen«, sagte Kade. Er musste in der offenen Tür des Cockpits gestanden haben.
»Am Funkgerät«, ergänzte er. »Sag den Indern … sag ihnen, dass ich an Bord bin.«
»Was?«, dachte Sam. Sie hatte bereits erwähnt, dass sie Kinder bei sich hatten. Oh, mein Gott.«
»Mayday, Mayday!«, schrie sie ins Funkgerät. »Indischer Stützpunkt, wir haben Kaden Lane an Bord, auch bekannt als ›Synapse‹, er ist der Mitentwickler von Nexus 5. Wir befinden uns unter Attacke von Burmesischen Kampfjets. Wir suchen Asyl und …«
PIIIEEEEEP.
Ein lauter Ton schnitt durch das Cockpit, als ein roter Text auf dem Bildschirm vor ihr aufblitzte: RADARERFASSUNG.
»Das ist die letzte Warnung!«, sagte die burmesische Stimme. »Kehrt sofort um. Wir WERDEN schießen. Ihr habt fünf Sekunden.«
»Jetzt oder nie«, sagte Feng.
Sam drehte sich zu ihm. Sein Finger schwebte über dem Auslöser für die Chamäleonfunktion. Sie hatten nur diese eine einzige Chance: sich in Dunkelheit zu hüllen. Von der Bildfläche zu verschwinden. Sich abzuschalten und für möglichst viele Klicks einfach nur zu gleiten. Und zum Teufel zu beten, dass sie diese burmesischen Angreifer abhängen und dann wieder auftauchen konnten. Sie legte ihre Hand an den Ausschaltknopf für die Triebwerke. »Tu es«, sagte sie zu sich selbst, während sie sie abschaltete. Sofortige Stille. Die zuvor kaum spürbare Vibration der Triebwerke war plötzlich weg. Sam hielt die Luft an.
Dann leuchteten Statusanzeigen vor ihr auf, sobald Feng die Chamäleonfunktion eingeschalten hatte. Die Außenfläche des Flugzeuggehäuses transformierte sich, wies Licht und jeglichen Radar ab. Die Cockpitfenster tönten sich kurzerhand. Hitzeabweisende Triebwerkshauben fuhren aus dem Gehäuse heraus und schlossen sich langsam um das hintere Ende der abgeschalteten Turbinen, um das heiße Metall vor den Infrarotstrahlen abzuschirmen.
Schneller, drängte Sam. Schneller.
PIIIIIIEEEEEEEEEEEEEEEP.
RAKETENABSCHUSS. RADARERFASSUNG.