Mami Staffel 9 – Familienroman. Stephanie von DeyenЧитать онлайн книгу.
würde ich zur Polizei gehen«, riet Katja, die sich auch in schwierigen Situationen immer zu helfen wußte. Diese Eigenschaft hatte sie sich nicht als Reiseleiterin erworben, sondern als ältestes von vier Kindern, deren Mutter halbtags arbeitete. Verwöhnt war sie nie worden, aber das erwies sich im Leben als Vorteil.
»Polizei?« wiederholte Mike erschrocken und wirkte richtig verstört. Ihm fehlten Katjas Erfahrungen, denn als einziger Sohn des reichen Unternehmers Cramer hatte er das Leben bisher nur von seiner angenehmen Seite kennengelernt.
In diesem Moment flammten in rascher Folge mehrere Blitzlichter auf. Der Vertreter der Regionalpresse hatte Mike Cramer erkannt und ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, über seine Ankunft zu berichten. Die bevorstehende Hochzeit in Marbella, dem Ferienort der Reichen und der Schönen an Andalusiens Küste, war von öffentlichem Interesse. Maurena de Derceville und Mike Cramer stammten beide aus reichen Familien, und ihre Hochzeit war ein gesellschaftliches Ereignis, an dem der Geldadel Europas teilnehmen würde.
»Sch…«, zischte Mike verärgert, denn er wußte genau, daß er Probleme mit Maurena bekommen würde, wenn dieses Bild in der Zeitung erschien. Vielleicht konnte er den Fotografen davon abhalten, wenn er ihm einen Schein in die Hand drückte.
Doch noch bevor Mike auf den Mann mit der Kamera zugehen konnte, tauchte eine Gruppe Reisender auf, die mit ihren Gepäckstücken seine Gesprächspartnerin und somit auch ihn umringten.
Mike stieg über Koffer und Rücksäcke, Taschen und Beutel, doch bis er außerhalb des Kreises war, konnte er den Pressemann nirgends mehr entdecken. Hinzu kam, daß dem Kind diese Aktion nicht zu behagen schien. Es strebte von
Mikes Arm und begann erneut zu weinen, als das nicht gelang.
Mike wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. Es war Februar und damit in Andalusien wohl wärmer als im nördlichen Europa, aber nicht heiß. Trotzdem schwitzte Mike. Für ihn wurde mehr und mehr zur Gewißheit, daß ihm etwas widerfahren war, was ihm kein Mensch glauben würde, am wenigsten Maurena. Sie war unheimlich eifersüchtig und würde behaupten, daß das Kleine auf seinem Arm sein Kind war. Dabei hatte er in dieser Hinsicht ein gutes Gewissen. Seit er Maurena kannte, und das waren immerhin zwei Jahre, hatte er keine andere mehr angeschaut, obwohl sie sich nur alle zwei Monate sehen konnten. Nach der Hochzeit würde Maurena zu ihm nach Frankfurt ziehen, das hatte sie versprochen. Allerdings war es nicht sicher, daß sie sich daran halten würde.
Doch darüber dachte Mike im Moment nicht nach. Er hatte andere Sorgen.
»Ciao!« winkte Katja herüber und zog mit ihrer Reisegruppe ab.
Noch einige Minuten stand Mike unschlüssig neben seinem Handgepäck und versuchte, Emely durch Streicheln zu besänftigen, so wie Katja das getan hatte. Doch bei ihm reagierte die Kleine sauer. Wütend schlug sie um sich, bäumte sich in seinen Armen auf und strampelte, daß Mike Mühe hatte, sie festzuhalten. Wie die Studentin das Kind so rasch beruhigt hatte, würde Mike ewig ein Rätsel bleiben. Bei ihm funktionierte die Methode nicht.
Er hätte Emely einfach absetzen und davongehen können. Doch so gewissenlos war Mike nicht. Sein Vater war zwar der Ansicht, daß es der Sohn, als sein Vertreter und Nachfolger in geschäftlichen Dingen, am nötigen Ernst fehlen ließ, doch Mike löste Probleme auf seine Art: verspielt und heiter. Der Erfolg gab ihm meistens recht und verblüffte seinen alten Herrn. Nur in der jetzigen Situation hatte Mike keinerlei Erfolg, was ihn nicht gerade friedlich stimmte.
»Deiner Mama werde ich was erzählen, wenn sie kommt«, drohte er. Doch Emelys Mama kam nicht.
*
Nach einer Wartezeit von gut einer halben Stunde wandte sich
Mike an die Flughafen-Polizei. Die Beamten verwiesen ihn höflich an die Dienststelle in der Stadt.
Mike nahm ein Taxi und ließ sich hinbringen. In einem düsteren Flur mußte er auf einer abgewetzten Bank Platz nehmen und warten. Das war etwas, das Mike ohnehin haßte. Jetzt machte es ihn noch nervöser, als er ohnehin war. Am liebsten hätte er sich klammheimlich davongemacht. Doch Emely, die inzwischen vor Erschöpfung in seinen Armen eingeschlafen war, tat ihm leid. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß sie eine »Rabenmutter« hatte. Die Sorgen, die sich Mike um seine Beziehung zu Maurena machte, wurden davon allerdings auch nicht kleiner.
Seinem Empfinden nach dauerte es unheimlich lange, bis man ihn in die nüchterne Amtsstube rief. In Wirklichkeit waren es nur zehn Minuten gewesen, doch Mikes Geduld war zu Ende. Er legte das Kind auf den erhöhten Tisch, der wohl als Absperrung zum übrigen Büroraum gedacht war. »Das möchte ich hier abgeben!« Mike machte Anstalten, sich nach dieser Erklärung sofort zu entfernen.
Der Beamte hinter der Absperrung bekam kugelrunde Augen. Zum einen verstand er Mikes Äußerung nicht, und zum anderen war es für einen spanischen Familienvater wie ihn undenkbar, ein kleines Mädchen einfach irgendwo abzugeben. José Alvorez, so hieß der Mann, der hier Dienst tat, hatte selbst zwei kleine Töchter, und er hätte sich um nichts in der Welt von ihnen getrennt. Daß ein Mann sein Kind weggeben wollte, empfand er als ungeheuerlich. Seinem Äußeren nach war dieser Mann ein Nordeuropäer, der in Andalusien Urlaub machte. Die Polizei hatte Anweisung, die Fremden höflich und freundlich zu behandeln. Doch wenn jemand sein Kind abgeben wollte wie einen gefundenen Regenschirm, da hörte der Spaß auf! José gab seinem Adjutanten einen Wink, den Fremden aufzuhalten.
So wurde Mike Cramer unsanft am Arm festgehalten, noch bevor er die Tür erreichte.
»Hiergeblieben!« wurde ihm auf Spanisch befohlen.
Mike zuckte erschrocken zusammen, denn es war ihm klar, daß sich aus diesem Wort eine neuerliche Verzögerung ergeben würde. »Hören Sie, ich habe mit diesem Kind nichts zu tun«, versicherte er hektisch. »Nix hija! Comprender?« Die Ausdrücke »Tochter« und »verstehen« waren zwei der wenigen spanischen Worte, die Mike beherrschte. Maurena und ihre Familie stammten aus Frankreich und lebten nur in den Wintermonaten in ihrem andalusischen Feriensitz, den sie »Schloß Derceville« nannten. Maurena, die von einer deutschen Gouvernante erzogen worden war, sprach sehr gut deutsch, weshalb es zwischen ihr und Mike keine Verständigungsschwierigkeiten gab. Maurenas Mutter kam aus Düsseldorf, und nur Maurice de Derceville, ihr vor einem halben Jahr verstorbener Vater, hatte französisch gesprochen.
»Momento!« abwehrend hob der Beamte die Hände. »Ihre Papiere bitte«, verlangte er in spanischer Sprache.
Mike händigte sie ihm aus und hoffte, daß der Name »Cramer« Eindruck auf den Mann in Uniform machen würde. Das war aber nicht so. Im Gegenteil.
»José Alvorez sah in der Nationalität des verantwortungslosen Vaters wieder einmal die Bestätigung dafür, daß es mit der Moral der Urlauber nicht zum besten bestellt war. Er zog die dichten schwarzen Augenbrauen hoch und deutete auf das Kind. »Nombre?«
»Emely«, antwortete Mike eingeschüchtert. »Mehr weiß ich nicht.«
»Emely Cramer«, folgerte der Polizist.
»Nein. Ich bin nicht der Vater. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
Auch diese Beteuerung machte keinen Eindruck. Sie wurde einfach übergangen. Der Beamte füllte auf einer vorsintflutlich anmutenden Schreibmaschine ein Formular aus. Das Geräusch jeden getippten Buchstabens hallte von den kahlen Wänden wider und schüchterte sogar Emely ein, die längst wieder munter war und sich ängstlich umschaute.
»Geburtsdatum?« José schaute auf die Kleine.
»Weiß ich nicht«, antwortete
Mike, der den spanischen Ausdruck mehr erriet als verstand. »Ich habe keine Ahnung, wie alt sie ist. Ein Jahr oder zwei oder drei. Woher soll ich das wissen!« Mike zog die Schultern hoch, um so seine Unschuld glaubhaft zu machen.
»Achtzehn Monate«, entschied José, der sich in solchen Dingen auskannte. »Und jetzt erzählen Sie. Warum ist Ihre Frau davongelaufen?«
»No comprender«, ächzte Mike, dem es immer heißer wurde.
Eine Sekretärin wurde geholt, die einige Deutschkenntnisse hatte. Sie übersetzte die