Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
die Hand auf seinen Kopf und streichelte ihn zärtlich. Wie hypnotisiert starrte er auf ihre Finger. So weit kam es noch mit ihm, daß er den Hund um diese Zärtlichkeit beneidete!
»Wir essen um 12 Uhr, das heißt, so genau halten wir uns nur während der Schulzeit daran. In den Ferien bemühen wir uns, auch mit der Zeit großzügig zu sein. Gute Nacht. Und noch einmal danke.«
Sie ging rasch davon, die Dunkelheit verschluckte sie. Nie wäre es ihm eingefallen, ein Mädchen ohne seine Begleitung fortgehen zu lassen. Das verbot ja schon einfach die Höflichkeit.
Aber bei Susanne war offensichtlich alles anders. Und so seltsam hatte er sich noch nie gefühlt.
Er ging langsam zu seinem Häuschen zurück. Aber er konnte sich nicht entschließen ins Haus hineinzugehen. Er ließ sich auf die Bank fallen, die noch warm von der Sonne war. Er fühlte sich müde, ratlos. Furcht und der Wunsch nach Zärtlichkeit nisteten in seinem Herzen und verstärkten die Unruhe, die ihn gefangen hielt.
Er versuchte, an sein Manuskript zu denken, aber die Arbeit war ihm plötzlich unwichtig geworden. Er erschrak nicht einmal darüber. Etwas anderes hatte von ihm Besitz ergriffen, erfüllte ihn ganz, nistete in Kopf und Herzen. Es war beinahe wie eine Krankheit, wie ein Bazillus, den er verschluckt hatte.
Er wagte nicht darüber nachzudenken, ob er verliebt war.
Der Himmel bewahre ihn davor.
Wäre er ihr unter anderen Umständen begegnet, überlegte er, während er den Himmel nach Sternbildern absuchte, vielleicht hätte er sie nicht einmal beachtet. Sie war ja so ganz anders als die Damen, die ihm bisher Gesellschaft geleistet hatten. Er hätte es sofort gespürt, daß ein Mädchen wie Susanne nicht für einen kurzen, intensiven Flirt zu haben war.
Er starrte auf den großen Wagen, wie ein dicker gelber Ball stand der Mond am Himmel. Man sollte zum Meer hinuntergehen, dachte er.
Aber nicht allein.
Schön müßte es sein, mit Susanne durch den Sand zu waten, die Sterne über sich. Der Mond versilberte das Meer, und sie und er würden die einzigen Menschen sein.
Er kam erschreckt in die Wirklichkeit zurück, ein Käuzchen rief, irgendwo piepte verschlafen ein Vogel.
Das beste ist es, Jonathan Nolde, wenn du deine Habseligkeiten in den Koffer wirfst, die Blätter, die noch immer nicht beschrieben sind, in die Tasche legst und nach Hause fährst. Nach Hause, in deine elegante Junggesellenwohnung. Und wenn es dir einsam ist, dann suchst du dir aus deinem Kalender eine Adresse heraus und verbringst einen vergnüglichen Abend mit einer alten Freundin. Dann wirst du schon auf andere Gedanken kommen.
Aber er wußte genau, daß er es nicht tun würde.
Er würde morgen mittag brav zu dem Häuschen pilgern, er würde glücklich über Susannes Nähe sein… er wußte, daß nicht einmal die Kinder ihn stören würden.
Himmel, was passierte mit ihm?
*
Er hatte unruhig geschlafen, das Frühstück schmeckte nicht, er kochte sich nur einen Kaffee, der viel zu stark war. Er setzte sich an seine Schreibmaschine, die Pfeife im Mund. Er verbot sich, über die Dünen zu dem kleinen Haus hin-überzusehen.
Dort quirlte natürlich das Haus voll Leben, während es bei ihm totenstill war.
Er wollte sich wirklich darüber freuen.
Er schrieb eine Seite, las sie durch und zerriß sie. In diesem Tempo wird das Manuskript nie fertig werden, zankte er sich aus. Wo ist denn deine vielgepriesene Disziplin geblieben, Jonathan? Bisher hat doch dein Schreiben in deinem Leben den größten Stellenwert gehabt.
Er glaubte Schritte zu hören. Hatte nicht das Gartentürchen gequietscht?
Jonathan hatte den Bauern erwartet und wunderte sich flüchtig, daß der ins Haus polterte. Für gewöhnlich hielt er sich mit umständlichem Klopfen auf.
Jonathan drehte den Kopf und sah zur Tür, die ungestüm aufgestoßen wurde.
»Johann?« Und sofort stieß Jonathan die ängstliche Frage aus: »Ist etwas passiert?«
»Ja. Sehen Sie nur.« Erst jetzt bemerkte Jonathan die Möwe, die der Junge in den Händen hielt. Johanns Gesicht war brandrot, und die Augen suchten ängstlich seinen Blick.
»Ich hab’ die Möwe in den Dünen gefunden. Vielmehr Charlie. Der stürzte sich auf sie und hat die Arme mit seinem Bellen ganz verrückt gemacht. Ich hab Charlie einen derben Schlag übergebraten, ganz beleidigt ist er davon gerannt. Sehen Sie nur, sie muß sich den Flügel gebrochen haben.« Der Junge streckte ihm die Möwe entgegen. Das war es nicht, was Jonathan so eigenartig berührte, ihm unter die Haut ging und sich in seinem Herzen einnistete. Es war das bedingungslose Vertrauen, das in Hannes Augen schimmerte.
»Was machen wir jetzt? Glauben Sie, daß sie Schmerzen hat?«
Wie hatte er gesagt. Der Junge nahm ganz selbstverständlich an, daß er helfen konnte.
Es war, als rollte blitzschnell ein Film in Jonathans Gedanken ab. Er sah sich selbst verletzte Tiere zu seinem Onkel bringen, voll Vertrauen in dessen Fähigkeiten, das Tier wieder gesund zu machen.
Behutsam nahm er es aus Hannes’ Händen, er nickte, lächelte beruhigend.
»Ich denke, es hat keine Schmerzen. Das Tier hat Angst, so nahe wird es noch nicht mit Menschen in Berührung gekommen sein.«
Er sah auf das zitternde weiße Bündel hinunter, die Möwe versuchte, mit dem spitzen Schnabel in seine Hand zu hacken, aber dann ließ das Tier den Kopf zur Seite fallen und ergab sich in sein Schicksal.
»Weiß der Teufel, wie lange sie schon da gelegen hat«, murmelte Johann. »Zwei Möwen flogen kreischend über sie herum. Glauben Sie, daß die ihr was tun wollten?«
»Wir werden mit ihr in die Küche gehen, Hannes. Wir werden ihr was zu trinken einflößen und dann werde ich mir den Flügel ansehen.«
Die Bewunderung in Johanns Stimme war nicht zu überhören.
»Glauben Sie, daß Sie ihr helfen können? Und daß sie wieder gesund wird, daß sie wieder fliegen kann?«
Jonathan fühlte sich plötzlich wunderbar, so, als hätte jemand eine Last von seinen Gliedern genommen.
»Ich hatte einen Onkel, der Tierarzt war. Ich habe als Junge alle möglichen Tiere herangeschleppt, mein Onkel behauptete immer, so oft wie ich wäre kein anderer in seiner Praxis. Ich habe immer zugeschaut und später habe ich sogar manches Tier allein verarzten können. Wir müssen den Flügel schienen. Das hört sich viel komplizierter an, als es ist«, tröstete er den Jungen, der so unglücklich aussah, daß man ihn einfach trösten mußte. »Wenn er zu schwach ist, allein zu trinken, unser Kranker, dann werden wir ihm mit einer Pipette Wasser einflößen. Alles kein Problem, zusammen schaffen wir es leicht.«
Johann öffnete die Küchentür. Auf der Ablage stapelte sich das schmutzige Geschirr. Jonathan hatte vergessen, die einzige Topfblume zu gießen, mit hängenden Blättern trauerte sie ihrem Ende entgegen.
Das alles sahen die beiden nicht. Jonathan legte die Taube behutsam auf den Küchentisch. »Du mußt sie festhalten, Hannes. Ich hole alles zusammen, ich glaube, sie ist ohnmächtig geworden.«
»Ist sie tot?« Schrecken flog über Johanns Gesicht. Ganz weiß war er.
»Nein, sie atmet noch, sieh doch, wie sich die Brust hebt und senkt.«
Sie arbeiteten einträchtig miteinander, Johann war voll Bewunderung für den Mann, aber als der Flügel geschient war und die Möwe auf dem Küchentisch hockte und verlorene, heisere Schreie ausstieß, weinte er.
Jonathan ließ ihn weinen und fragte nichts. Er streichelte die Möwe, hielt sie fest, damit sie sich durch das Herumgezappele nicht noch mehr verletzte.
»Entschuldigung«, stieß Johann schluchzend hervor. »Ich heule sonst wirklich nicht einfach so.«
»Glaube