Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
ist es meine Pflicht, mich dagegen zu wehren. Noch nie ist von hier ein Kind spurlos verschwunden.«
Ellen und ihr Kollege sahen sich an; auch ihnen war zu Ohren gekommen, daß in einem Waisenhaus ›so etwas‹ eigentlich nicht passieren durfte! Doch wichtiger war im Moment, weiter nach dem Kind zu suchen.
»Wir haben nach wie vor jeden verfügbaren Streifenwagen im Einsatz, um Kevin zu suchen«, versprach sie. »Machen Sie sich keine Sorgen, irgendwann muß er ja wieder auftauchen.«
»Und wenn nicht?« Bärbel Clasen sah verzweifelt aus. »Was ist, wenn er nur tot aufgefunden wird?«
Ellen Langner senkte den Kopf. Noch sprach es keiner aus, aber alle ihre Kollegen und Kolleginnen dachten ähnlich wie Bärbel Clasen.
»Es haben sich inzwischen Initiativen gebildet, die den Wald und den Stadtpark durchsuchen, auch die Freiwilligen Feuerwehren aus den umliegenden Dörfern beteiligen sich an der Suche«, gab Ellen zu verstehen.
Die Heimleiterin nickte und sagte: »Eine meiner Mitarbeiterinnen, Frau Moser und der Vater des Jungen wollen mit Kevins Foto an den Wohnungstüren klingeln und die Einwohner von Neustadt direkt befragen.«
»Das wird aber nicht leicht sein, Frau Clasen. Wissen Sie, wie viele Menschen hier leben – auch, wenn wir hier in einer relativ kleinen Stadt leben, werden zwei Personen es kaum schaffen, alle Bewohner zu befragen.«
»Aber es ist wenigstens ein Versuch!« sagte Frau Clasen laut. »Es ist doch besser, als nur dazusitzen und Däumchen zu drehen!«
*
Müde und resigniert kehrte Julia an diesem Abend in ihre Wohnung zurück. Sie wußte nicht mehr, an wie vielen Haustüren sie geklingelt hatten – ohne Erfolg. Die meisten hatten von dem verschwundenen Jungen aus dem Städtischen Waisenhaus gehört oder darüber gelesen, aber gesehen hatte ihn niemand.
Julia massierte ihre schmerzenden Füße und hoffte, daß sie am nächsten Tag fündig werden würden. Sie durften nicht aufgeben!
Erleichtert hatte sie gehört, daß auch das Durchsuchen des Waldes bisher keinen Hinweis auf Kevin gegeben hatte, aber das hieß noch gar nichts. Wenn der Junge es tatsächlich geschafft hatte, Neustadt zu verlassen, konnte man nur noch auf den Zufall hoffen.
Schließlich fiel Julia ins Bett, fand jedoch keinen Schlaf, obwohl sie todmüde war. Abwechselnd kreisten ihre Gedanken um Kevin und Roland – beide liebte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Doch wenn Kevin etwas passiert sein sollte, war an eine engere Bindung zu seinem Vater nicht zu denken!
Irgendwann weit nach Mitternacht fiel Julia in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie alle paar Minuten hochschreckte. Sie träumte von Kevin, von Roland und davon, daß sie eine glückliche Familie sein würden…
*
Kevin hatte in den letzten Tagen eine frische Gesichtsfarbe bekommen. Er spielte fast den ganzen Tag im hinteren Teil des großen Gartens, immer umringt von Circe und ein paar der anderen neugierigen Katzen. Frau Schröder hatte sich ihren Schaukelstuhl auf die hintere Veranda gestellt und sah zärtlich auf den Kleinen, der sich wie zu Hause bei ihr fühlte.
Diese Rabeneltern! dachte sie ein über das andere Mal. Die sollten doch froh und stolz sein, daß sie solch einen reizenden Sohn hatten! Er machte der alten Frau überhaupt keine Mühe – und er hörte stundenlang mit großen Augen zu, wenn sie von früher erzählte, als Erwin, ihr Ehemann, noch lebte und sie viele Reisen unternommen hatten. Leider war die Ehe kinderlos geblieben, und zum Trost hatte Erwin Schröder seiner Frau eine junge Katze geschenkt. Sofort hatte sie das Kätzchen in ihr Herz geschlossen, und nach und nach wurden es immer mehr. Nun, im Alter, konnte sie sich ihr Leben ohne Katzen nicht mehr vorstellen.
Mit Erschrecken hatte Frau Schröder einmal gehört, daß eine Frau in ihrem Alter in einer anderen Stadt über zwanzig Katzen in ihrer kleinen Wohnung gehalten hatte. Das konnte sie nicht begreifen. Ihre Tiere hatten freien Auslauf, waren gepflegt und auch im Inneren des Hauses war alles sauber und gepflegt. Niemand konnte von ihr behaupten, daß ihre Katzen verwahrlost waren.
»Circe hat dich ganz besonders ins Herz geschlossen«, bemerkte sie am fünften Tag nach Kevins Ankunft in ihrem Haus. »Wenn du möchtest und deine Eltern es erlauben, darfst du sie mit nach Hause nehmen.«
Kevin freute sich im ersten Moment, doch dann verfinsterte sich sein kleines Gesicht. Er hatte doch gar kein Zuhause und schon gar keine Eltern! Daß er seine Mutter finden könnte – die Hoffnung hatte er bereits aufgegeben. Und ins Waisenhaus wollte er nicht zurück, dort hätte er auch Circe nicht mitnehmen dürfen. Da gab es immer nur Verbote und Vorschriften. Bei Frau Schröder fühlte er sich zum ersten Mal in seinem jungen Leben wirklich frei.
Waltraud Schröder bekam nie Besuch, aber trotzdem wurde es ihm nicht zu eintönig, nur sie und die Katzen zu sehen. Sie besaß zwar ein Fernsehgerät, aber das war seit Jahren kaputt, hatte Frau Schröder gesagt. Im Heim war das Fernsehen die einzige Möglichkeit gewesen, etwas von der Welt zu erfahren, aber hier fehlte es Kevin überhaupt nicht…
*
»Heute abend wird die Suchmeldung von Kevin gesendet«, verkündete Diana am nächsten Morgen aufgeregt. Sie war noch immer nicht darüber hinweg, daß Kevin ausgerechnet verschwunden war, als sie Dienst hatte, aber die Anteilnahme der anderen hatte ihr ein wenig darüber hinweggeholfen. Außerdem hatte Dr. Wolfgang Jäger, der Zahnarzt, sie zum Essen eingeladen und ihr gut zugeredet und getröstet. Diana glaubte ihm nur zu gern, auch wenn sie nicht den Jungen darüber vergaß.
Marianne war krankgeschrieben, sie war der Belastung nicht gewachsen, ständig an den verschwundenen Jungen erinnert zu werden.
»Hoffentlich meldet sich jemand nach der Ausstrahlung«, sagte Julia laut, was alle anderen dachten. Auch an diesem Abend wollte sie mit Roland weiter die Suche fortsetzen.
»Wir sollten alle rumgehen und die Leute befragen«, sagte Diana, »ihr beide allein könnt doch nicht viel ausrichten.«
»Ich glaube nicht, daß es viel bringt, wenn wir alle den ganzen Abend suchen und am nächsten Tag unsere Arbeit hier nicht mehr schaffen«, wandte Julia ein. »Jemand muß sich doch auch um die anderen Kinder kümmern.«
»… bevor wieder eines abhaut«, fügte Diana trocken hinzu.
»Das wird wohl nicht möglich sein«, warf Bärbel Clasen, die hinzugetreten und den letzten Teil der Unterhaltung gehört hatte, ein. »Der Schlüssel für die Hintertür wird jetzt immer abends in meinem Büro eingeschlossen, die Haupttür ist sowieso verschlossen. Die Kinder tun mir allmählich leid, sie müssen sich wirklich wie im Gefängnis vorkommen – aber die Sicherheit geht nun mal vor. Das Risiko, daß es jemand anderes Kevin nachmachen will, ist einfach zu groß.«
»Ja, ich könnte mir gut vorstellen, daß einige Kinder dasselbe versuchen möchten wie Kevin – schon allein wegen der ungewohnten Aufmerksamkeit«, sagte Julia tonlos. Sie hatte gerade erst am Vormittag zufällig hören können, wie sich zwei ältere Mädchen über Kevin unterhielten. Fast neidisch waren sie, daß am Abend sein Bild im Fernsehen gezeigt wurde, wo alle Welt es sehen konnte.
Julia war schließlich zu den Mädchen getreten, die erschrocken zusammenzuckten, als sie merkten, daß ihre kleine Unterhaltung einen unerwünschten Zuhörer hatte. Ernsthaft hatte Julia den Mädchen klargemacht, daß Kevin möglicherweise etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte und es aus diesem Grund überhaupt nicht toll war, ins Fernsehen zu kommen.
Danach hatten die beiden betroffen zu Boden gesehen und gar nichts mehr gesagt. Doch auch Julia fand, daß es besser war, wenigstens für eine Weile das ganze Heim abzusichern – es war ja nur zur Sicherheit der Kinder!
»Seht ihr euch die Suchmeldung auch im Fernsehen an?« fragte Diana. »Es soll in den Zwanzig-Uhr-Nachrichten gesendet werden.«
»Nein, Roland…, ich meine Herr Westermann und ich wollen gleich los, wenn ich Feierabend habe.« Julia spürte, wie sie hochrot im Gesicht wurde und beschäftigte sich deshalb intensiv mit ihrer angefangenen Arbeit, aber Diana hatte doch Julias Verlegenheit gespürt. Stillschweigend waren