Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
war er ja da und sie konnte einen Blick auf ihn werfen. Sie parkte den Wagen in einer Seitenstraße und ging mit klopfendem Herzen durch die Fußgängerpassage. Da war schon das Schild mit der Aufschrift WEST-COMB zu sehen. An einem Abend hatte Roland ihr stolz sein modernes Geschäft gezeigt.
Nun stand sie mit zitternden Knien vor der Schaufensterscheibe und tat, als würde sie bewundernd die ausgestellten Monitore, Tastaturen und Laufwerke bewundern. Vorsichtig warf Julia einen Blick ins Ladeninnere und konnte Marion Seifert erkennen, die mit einem Kunden sprach! Jetzt arbeitete sie also schon in Rolands Geschäft, vermutlich hatte sie gar nicht vor, in die Schweiz zurückzukehren.
In dem Moment trat Roland hinzu, in der Hand trug er ein Computerkabel. Der Kunde nickte, bezahlte und verließ das Geschäft. Bevor sich Julia zum Gehen wandte, sah sie, daß Marion vertraulich den Arm um Rolands Schulter legte. Das war zuviel!
Mit tränenüberströmten Gesicht tastete sich Julia zu ihrem Wagen. Wie konnten die beiden so schamlos sein – hatten sie ihren Sohn inzwischen vergessen?
*
Kevin sah staunend, wie das Eichhörnchen blitzschnell in die oberen Äste des Kastanienbaumes sprang – so schnell, daß Circe, die dem Jungen Gesellschaft leistete, gar nicht den kleinen, putzigen Nager bemerkte.
»Oma Waltraud!« krähte er begeistert. »Hast du das süße Eichhörnchen gesehen?«
»Sicher, mein Junge. Die kommen oft hier in meinen Garten, sie leben ja da vorn im Wald. Aber so manches Mal schon hat sich eine der Katzen so ein Tierchen geschnappt.«
»Du meinst… aufgefressen?« Kevin konnte sich nicht vorstellen, daß die possierlichen, verschmusten Katzen so etwas tun konnten.
Waltraud Schröder nickte. »Ja, Katzen sind kleine Raubtiere, und für sie macht es keinen Unterschied, ob sie eine Maus, einen Vogel oder ein Eichhörnchen jagen und erlegen.«
Kevin schüttelte sich, so etwas wollte er gar nicht hören. Er nahm Circe hoch und streichelte ihr samtenes Fellchen. »Kleines Raubtier«, murmelte er dabei, und Circe begann zu schnurren, als habe er sie gelobt.
»So, das hätten wir«, sagte Frau Schröder und hielt sich den Rücken. »Wenn das Kreuz doch mitmachen würde.« Sie nahm den Wäschekorb und trug ihn zum Haus zurück. Hier, im hinteren Teil des Gartens, waren ein paar Wäscheleinen gespannt, an denen nun Kevins Jeans, das gelbe T-Shirt und ein paar Stücke Unterwäsche und Socken im leichten Wind flatterten.
Er war froh, daß er genügend Wäsche zum Wechseln mitgenommen hatte; schließlich konnte er nicht ständig in denselben Sachen herumlaufen.
Er fühlte sich wohl bei Frau Schröder, dachte mit keinem Augenblick daran, daß die ganze Stadt auf der Suche nach ihm sein könnte. Ihm war nicht bewußt, daß es mehr Menschen gab, die sich um ihn sorgten, als er jemals geglaubt hatte.
Kevin verspürte keinerlei Heimweh nach dem Waisenhaus, außer Julia hatte sich doch niemand um ihn gekümmert. Ja, die liebe Julia vermißte er schon – aber auch sie hatte ihm in seinem Kummer nicht viel helfen können.
*
Am nächsten Morgen tauchte Roland dann im MARIENKÄFER auf – mit Marion Seifert im Schlepptau. Er begrüßte Julia nur kurz im Vorübergehen und verschwand mit Marion im Büro der Heimleiterin.
Julia konnte es kaum fassen – dieser Roland Westermann tat, als wäre sie eine flüchtige Bekannte und nicht die Frau, die die Sorgen um seinen verschwundenen Sohn mit ihm teilte!
»Julia, spielst du mit mir Kasper-Theater?« fragte die kleine Yvonne und sah mit ihren blauen Augen bittend zu Julia hoch. Das Mädchen konnte einem leid tun. Vater und Mutter stritten sich, wer das Sorgerecht für sie bekommen sollte. Yvonne wurde hin- und hergerissen, bis das Jugendamt entschieden hatte, daß die Kleine zunächst von den Eltern wegkam.
»Tut mit leid, Yvonnchen«, sagte Julia und kniete sich vor dem Mädchen hin. »Ich habe noch eine Menge zu tun heute. Aber sieh mal, da kommen Sascha und Karsten. Die spielen bestimmt mit dir.«
Erleichtert sah sie, daß die beiden größeren Jungen tatsächlich die Kasperpuppen hervorkramten und sich hinter dem Puppentheater aufbauten.
»Frau Moser?« fragte in diesem Moment eine Frauenstimme hinter ihr. »Kann ich Sie eine Minute sprechen?«
Julia fuhr herum, vor ihr stand Marion Seifert. Was konnte sie denn von ihr wollen? Diese Frau war im Augenblick die letzte, mit der sie reden wollte!
»Mein Name ist Marion Seifert«, sagte sie und reichte Julia die Hand. Dann fügte sie hinzu: »Kevins Mutter – aber das wissen Sie ja bereits. Wir sind schon bei meinem ersten Besuch hier einander vorgestellt worden.«
Julia nickte und versuchte, ihrer Stimme einen neutralen Ton zu verleihen. »Tragisch, was mit Ihrem Sohn passiert ist.«
»Tja, das ist es. Aber er taucht bestimmt wieder auf. Ich möchte Ihnen danken, daß Sie sich so intensiv an der Suche nach ihm beteiligen. Roland hat mir erzählt, daß sie gemeinsam Haus für Haus absuchen. Eine beachtliche Leistung, denke ich.«
Sie machte eine kleine Pause und wischte einen unsichtbaren Fussel von ihrem gut sitzenden hellgrünen Sommerkostüm. Julia beobachtete die Rivalin argwöhnisch, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß Marion Seifert sich nur bei ihr bedanken wollte.
Und das wollte sie in der Tat nicht. Die nächsten Worte trafen Julia wie ein Peitschenhieb. »Wissen Sie, Roland und ich werden noch einmal ganz von vorn beginnen. Ich kann ihn verstehen, daß er böse auf mich war, weil ich ihm damals die Schwangerschaft verschwiegen habe – aber er hat mir inzwischen verziehen.«
»Wie schön«, stieß Julia trokken hervor. Sie hatte einen pelzigen Geschmack im Mund und das Gefühl, jeden Moment die Haltung zu verlieren und der Frau zu sagen, was sie von ihr hielt.
»Roland sagte mir, daß der Junge ständig nach mir gefragt hat, das tut mir so leid.«
Julia sah Marion Seifert an, daß es ihr überhaupt nicht leid tat, daß ihr Sohn seit Jahren darauf wartete, wenigstens einmal von seiner Mutter besucht zu werden, doch sie nickte nur verstehend.
»Ja, jetzt will ich mal wieder. Roland will wieder seine Umfrage machen, wie ich es nenne, aber ich werde es mir heute abend mal so richtig gemütlich machen.«
Dann stakste sie auf viel zu hohen Absätzen davon. Julia sah ihr kopfschüttelnd nach. Sie wußte, daß diese Frau keine Träne vergießen würde, wenn Kevin etwas passiert sein sollte, sie hatte es nur auf Roland abgesehen!
»Die Tante finde ich doof«, sagte Yvonne plötzlich mit leisem Stimmchen neben Julia. »Ich mag sie nicht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Julia und mußte lächeln, obwohl sie so unsagbar traurig war…
*
Zehn Tage nach Kevins Verschwinden gab es immer noch keinen Hinweis, es schien tatsächlich, als hätte sich das Kind in Luft aufgelöst.
Die Freiwilligen, die sich an der Suche beteiligt hatten, hatten Suche und Hoffnung inzwischen aufgegeben; selbst Ellen Langner von der Polizei machte keinen Hehl daraus, daß man damit rechnen mußte, den Jungen nicht lebend wiederzusehen.
Roland hatte eines Abends bei Julia angerufen und sich entschuldigt, daß er so lange nichts von sich hören gelassen hatte. »Weißt du, Marion nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Ich würde viel lieber wieder mal mit dir durch die Straßen fahren oder eine Tasse Kaffee trinken. Aber du hast ja Marion kennengelernt, sie erzählte mir davon. Da kannst du dir ja vorstellen, wie anstrengend sie ist.«
»Natürlich«, sagte Julia und wischte sich zornig die Tränen aus den Augenwinkeln. »Das glaube ich dir gern.« Ihr Herz war ihr schwer, und sie gab sich die größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie weinte. »Suchst du immer noch weiter?«
»Nein, ich glaube, jetzt kann nur noch der Zufall helfen. Auch die Polizei meint, nach so vielen Tagen erinnert sich sicherlich niemand mehr an einen fünfjährigen Jungen, den er einmal kurz auf der Straße