Hopfenbitter. Alexander BállyЧитать онлайн книгу.
an diesen Kletterhilfen hinauf und war schon vor mehr als einem Monat oben angelangt.
Wenn die Drähte, und an ein paar Stellen auch die Ranken, ganz oben durchgezwickt waren, wurden diese von kräftigen jungen Männern, die hinter dem Traktor gingen, heruntergerupft. Die störrischen Pflanzen hatten längst auch Halt an den dicken Stahlseilen gefunden. Doch wenn zwei Mann mit aller Macht ziehen, gibt auch der widerspenstigste Hopfen am Ende nach, und die grüne Säule fällt anmutig zu Boden. Ein weiterer Trupp Arbeiter schleppte sie dann zu einem Anhänger, wo etwa zwei Dutzend Leute mit dem Zupfen, dem »Hopfenbrocken«, beschäftigt waren.
»So wird Hopfen geerntet«, erklärte Willi.
»Muss ich da auch mit an den Ranken zerren?«
»Schmarrn!« Eleonore lachte. »Mir Weiberleut dürfen den Hopfen brocken. Mir sammeln die Hopfendolden von den Reben ab. Nur die braucht man. Der Rest der Pflanze ist eigentlich nur mehr Kompost.«
Endlich waren sie am Hof angekommen. Inzwischen war es fast fünf Uhr nachmittags.
»Ihr kennt euch ja aus. In a Stund gibt’s Abendessen, dann kommen auch die Männer wieder heim. Und morgen geht’s los … Langweilig wird’s schon keinem werden. Des zumindest ist sicher.«
Dass Franziska nun hinter Eleonore die Leiter auf den Heuboden hinaufstieg, empfand sie immer noch als kleines Wunder. Fast wäre sie nicht gekommen. Sie hatte in der Familie gegen große Widerstände kämpfen müssen und war ein weiteres Mal als ihr schwarzes Schaf bezeichnet worden. So war es auch schon gewesen, als sie bei Siemens zu arbeiten angefangen hatte. »Industriearbeiterin«, das klang in den Ohren ihrer Tante und der Großmutter nicht besonders standesgemäß. »Wir sind eine Postfamilie, Beamte. Wir gehören doch nicht zum Proletariat!«
Nur dumm, dass es keine Postbeamten mehr in der Familie gab. Großvater war schon seit Jahrzehnten tot, ihr Vater vermisst, und Onkel Erwin war als Feldpoststellenbediensteter der 9. Armee in Stalingrad gefallen.
Während Tante und Großmutter wenigstens die Pensionen ihrer Männer zum Leben hatten, hatten Mutter und sie beinahe gar nichts, außer Franziskas Einkommen aus der verachteten Industriearbeit.
Tante und Großmutter führten seither einen langen Kleinkrieg und versuchten, Franziska zu einem standesgemäßeren Broterwerb zu bewegen. Mehrmals in der Woche musste sie sich Vorwürfe in Frageform anhören. Ob es denn nicht bessere und geeignetere Arbeiten für Franziska gebe? In einem Laden vielleicht? Oder als Sekretärin? Doch kein Laden, den sie kannte, wollte sie nehmen, und bei ihren Künsten auf der Schreibmaschine wäre jede Bewerbung als Schreibkraft aussichtslos gewesen. Kaum anders war es um ihr Geschick an der Nähmaschine bestellt.
Das größte Hindernis war aber ein anderes. Die Arbeit an der Werkbank gefiel ihr. Genau so wollte sie arbeiten, mit den Händen etwas schaffen. Doch das war in der Familie verpönt.
»Aber Tante Iris hat doch auch in der Fabrik gearbeitet!«
»Im Krieg! Weil alle Männer fort waren, da hat sie es müssen! Doch nun ist Frieden. Wir sind anständige Leute, kein G’schwerl. Arbeiter und Linke, die bringen nur Unfrieden! Kind, besinn dich doch!«, wiederholten die Verwandten fortwährend. Dem Argument der guten Entlohnung konnten sie am Ende aber doch nicht viel entgegensetzen.
Aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten war Franziska ihrer Freundin in die Scheune gefolgt und kletterte nun hinter ihr eine Leiter hinauf.
»Hier werden wir schlafen!«, erklärte Eleonore. »Im Heu! Ganz romantisch!«
Tatsächlich fanden sie hier zwei ordentliche Reihen von Schlaflagern auf Heuballen mit Militärwolldecken als Unterlage vorbereitet, auf denen jeweils eine weitere Decke als Bettzeug lag.
»Darum also sollte ich den Jugendherbergsschlafsack mitbringen«, begriff Franziska. Plötzlich wurde sie rot. »Wo schlafen denn die Männer?«
Eleonore lachte. »Die Burschen und Mannsbilder schlafen drüben überm Stall. Ach ja, wenn wir schon dabei sind: Es gibt nur drei Regeln, aber die sind wichtig. Erstens: Hier oben wird ned g’raucht. Wenn dir a Zigarettn runterfällt, brennt ruck, zuck der ganze Hof ab. Aber du rauchst ja eh ned. Zweitens: Die Rucksäcke sind heilig. Wir ham keinen Spind und keine Schlösser. Wir müssen uns vertrauen können. Du magst ned, dass irgendwer in deinen Sachen kruschtet. Genauso geht es allen anderen. Drum: Anschaun ja, anfassen nein!«
»Und das Dritte?«
»Keine Männerg’schichten! Die Leut hier san sehr fromm. Ohne Schmarrn! Die Frau Bichler is a Seele von Mensch, aber wenn du ihr die Sünd unters Dach bringst, da wird s’ fuchsteufelswild. Ich hab schon Leut hier abfahren sehn, die hat die Bäurin förmlich rausg’staubt. Auch bei den Burschen gilt: Anschaun ja, anfassen nein! Na ja, a bisserl kokettieren is ja ganz normal, a Bussi is aa noch in Ordnung, aber was mehr is, is scho z’viel! Schmusen, zum Beispiel, des is scho nimmer gut. Und jetzt nimm deine Schüssel.«
»Ich wollt mich erst heut Abend richtig waschen!«
Eleonore lachte herzlich. »Franzi, des is doch ned nur dei Waschschüssel, des is aa dei Essgeschirr. Also nimm s’ mit und schick dich! Am ersten Tag gibt es immer Regensburger mit Kartoffelsalat!«
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18. September – Mittwoch
In Wolnzach, nur einen kräftigen Steinwurf von der Mariensäule entfernt, lag die Metzgerei Wimmer. Hinter den gut sortierten Fleisch- und Wursttheken des Verkaufsraums führte eine Tür nach hinten. Links war eine Treppe zu der Wohnung hinauf, rechts ging es in die Wurstküche, und geradeaus war das Brotzeitstüberl. Die Nachmittagssonne war inzwischen so weit auf ihrer Bahn nach Westen geglitten, dass sie die Fotografien von Alois Wimmer, dem Firmengründer, und seinem Sohn Benedikt, beide schon lange verschieden, in ein warmes Licht tauchte.
Der Firmenleiter der dritten Generation, Ludwig Wimmer, saß entspannt mit einem Büchereibuch auf der Eckbank, während Sebastian Kirner, sein Schwiegersohn und aktueller Chef, Rechnungen ablegte und Lieferscheine sortierte. Seine Frau Karola saß gegenüber, schrieb das Kassenbuch und arbeitete den Stapel Post in ihrem Eingangskörbchen ab.
Eine Weile war die Luft erfüllt von Konzentration und Papierrascheln. Plötzlich stutzte Karola.
»Is des von dir, Papa?«
Sie fischte eine Seite aus einem Motorradkatalog mit Lederkombis aus dem Eingangskorb.
Wimmer kehrte aus der Normandie zurück, wo er bis vor ein paar Momenten zusammen mit Commander Horatio Hornblower, dem legendären Seehelden aus der Feder Cecil Scott Foresters, mit einer französischen Fregatte um die Wette gesegelt war und grandios gesiegt hatte. Er warf einen Blick auf den Zettel, schüttelte den Kopf und stellte fest, dass er nichts mit dem Angebot von Lederkombis zu tun hatte. Er hatte allerdings eine gewisse Ahnung, wer dahintersteckte. Was ihn anging – für seine »Maschin«, wie er seinen Motorrad-Oldtimer nannte – hatte er alle Ausrüstung, die er brauchte.
Seit er die Metzgerei an seinen Schwiegersohn übergeben hatte, war ihm ein paar Jahre lang recht langweilig gewesen. Weiter mitzuarbeiten wäre schon schön gewesen, doch er war vernünftig genug, es sich von Anfang an zu versagen. Er würde Sebastian nur ins Handwerk pfuschen. Lieferfahrten, die übernahm er, aber die eigentliche Arbeit an Fleisch und Wurst und die Leitung des Betriebes, die oblagen nun Sebastian. Er hielt sich da völlig heraus.
Eine Weile hatte er versucht, seine innere Leere mit allerlei Hobbys auszufüllen, doch er war regelmäßig daran gescheitert. Weder Musik noch Kunst oder Sport konnten ihn ausreichend fesseln. Auch Modellbau, schöne Dinge sammeln und was es an klassischen Steckenpferden noch geben mochte, fand er öde.
Zwei Sachen aber gab es, die ihn doch begeisterten: Das eine war sein Motorrad. Anfang des Jahres hatte er eine alte BMW gekauft, das gleiche Modell, das er schon als junger Bursche gefahren hatte. Es zu warten, zu pflegen und die Ausflüge, die er damit unternahm, das alles machte ihn tatsächlich froh, denn es war stets auch eine Zeitreise in seine Jugend, als er und seine Frau Anna-Maria noch jung, verliebt und ein wenig verrückt gewesen waren. Doch seit einigen Jahren lag Anna-Maria