Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
gewesen, an den nächsten Baum zu fahren, wenn Toby nicht so zu ihm gesprochen hätte. Aber wenn Birgit noch lebte, irgendwo lebte, durfte er ihr das Kind nicht nehmen. Wenn sie auch ihn nicht mehr haben wollte, ihren Toby sollte sie behalten.
Er sah sie vor sich, wie sie voller Zärtlichkeit den Jungen in den Armen hielt, wie verklärt ihr Gesicht dabei war. Wie wenig er selbst Birgit bedeutet haben mochte oder bedeutet haben konnte, da er immer zwischen ihr und seiner Mutter stand, Toby war ihr Ein und Alles gewesen. Und jetzt zum ersten Mal begriff er seine Frau und ihre Gefühle, die von ihm nie ganz geweckt worden waren. Erst von dem Kind, das sie geboren hatte. Und er begriff auch, welch entsetzlicher Schmerz es für Birgit gewesen sein musste, das zweite Kind zu verlieren. Aber es war nicht ihre Schuld gewesen. Es war eine schicksalhafte Verkettung, über die er ihr hätte hinweghelfen müssen. Aber er hatte versagt. Restlos versagt hatte er. Immer war er ein Muttersöhnchen geblieben. Immer hatte zuerst gegolten, was seine Mutter sagte.
Wird sie Birgit mögen, hatte er damals gedacht, als ihm dieses Mädchen so gefiel. Er hatte Birgit geliebt, aber er hatte nicht gewagt, ihr seine Liebe zu erklären, bis seine Mutter sagte, dass sie doch die richtige Frau für ihn wäre. Da hatte er dann geglaubt, das alles in Ordnung wäre, dass seine Welt so bestehen würde, wie er sie gewohnt war, dass seine Mutter für immer bleiben würde. Aber er hatte insgeheim auch geglaubt, dass seine Mutter Birgit lieben würde wie eine Tochter. Bis heute hatte er es geglaubt. Bis er erfahren musste, dass nur finanzielle Erwägungen seine Mutter so zugänglich gemacht hatten. Dass sie hunderttausend, statt fünfzigtausend von Birgit genommen hatte, dass sie sich dafür bezahlen ließ, dass sie ihrem Sohn gestattete, eine Frau zu nehmen.
Birgit hatte für das bisschen Glück, das er ihr gab, teuer, zu teuer bezahlt, auch das war Bert bewusst geworden.
Aber plötzlich war er doch wieder hellwach. »Wann meinst du, dass Mami dagewesen ist, Toby?«, fragte er.
»Zweimal habe ich geschlafen, Papi«, erwiderte Toby prompt. »Nicht richtig geschlafen, weil ich immer an Mami denken musste und weil sie ja doch vielleicht wieder an der Tür läuten konnte.«
»Sag mir alles ganz genau, Toby. Woran kannst du dich erinnern?«
»Es hat geläutet. Dann kam Großmama und hat mich eingesperrt. Es wären Leute da, die sie nicht reinlassen will.«
»Und dann, Toby?«
»Dann habe ich gelauscht, weil ich wissen wollte, was das für Leute sind. Mami hat gesagt, dass ich nicht lügen darf, und ich lüge nicht.«
»Nein, du lügst nicht, du sagst die Wahrheit«, erwiderte Bert. »Was hat Großmama gesagt? Hast du es gehört?«
»Ja, ich habe es gehört.« Toby überlegte einen Augenblick. »›Was willst du hier?‹ hat sie gesagt. Und dann hat Mami gesagt: ›Ich komme heim!‹ Ich habe es mir ganz genau gemerkt, Papi.« Wieder dachte der Junge nach. »Mutter hat sie auch gesagt, das weiß ich. Und Großmama hat zu Mami gesagt, dass sie nicht Mutter sagen soll. Ich habe Mami gerufen, aber sie hat es wohl nicht gehört, weil Großmama so geschrien hat, dass das ihr Haus ist. Und sie hat auch gesagt, dass sie die Polizei holt. Dann hat sie noch was gesagt, das ich nicht behalten habe. Aber Mami hat gerufen: ›Wo ist Toby, wo ist Bert?‹ Ich lüge bestimmt nicht, Papi. Großmama war auch so schrecklich böse und hat gesagt, dass ich meine Eisenbahn und meine Tierchen nicht behalten darf, wenn ich noch was sage.«
Wie Toby dachte, wie er redete, nie zuvor war es Bert aufgefallen. Dass er ein besonders gescheites Kind sei, hatte seine Mutter zwar auch behauptet, aber darin geriete er ja ihm nach. War es nicht seltsam, dass ihm nun erst all diese Sticheleien bewusst wurden, die sie verteilt hatte? Das Unbehagen in ihm verstärkte sich. Was mochte seine Mutter wohl alles zu Birgit gesagt haben, wenn er nicht dabei war?
»Darf ich meine Eisenbahn und meine Tierchen behalten, Papi?«, fragte Toby. »Wenigstens die, die Mami mir geschenkt hat?«
»Du darfst alles behalten, mein Junge«, erwiderte Bert mit erstickter Stimme.
»Wohin fahren wir denn eigentlich?«, wollte der Kleine nun wissen.
Das hatte Bert sich noch gar nicht überlegt. Aber jetzt kam ihm blitzartig ein Gedanken. Vielleicht wusste Birgits Anwalt, Dr. Biel, etwas. Der Chefarzt des Sanatoriums hatte doch gesagt, dass sie ihn eingeschaltet hätte.
Es war nun gewiss nicht von Vorteil, dass er Toby bei sich hatte, aber er hatte Angst, den Jungen allein im Wagen zu lassen. Toby trottete neben ihm her, geduldig, widerspruchslos, während Bert schon überlegte, wo sie die Nacht verbringen könnten, denn mit seiner Mutter wollte und konnte er heute nicht mehr zusammentreffen. Es hätte eine noch schlimmere Auseinandersetzung gegeben.
Aber er hatte nichts für den Jungen mitgenommen, auch für sich selbst, nichts. Und morgen musste er an seinen Arbeitsplatz zurück.
Ob er ein paar Tage Urlaub nehmen konnte? Einverstanden damit würde der Chef wohl nicht sein, da ja gerade jetzt große Umstellungen im Gange waren. Und wohin sollte er mit Toby? Ein ganzer Packen von Problemen kam auf ihn zu.
Von Dr. Biel wurde Bert mit so eisiger Zurückhaltung empfangen, dass ihm das Herz noch tiefer sank. Toby hatte sich brav ins Wartezimmer gesetzt und schaute sich Illustrierte an.
Es dauerte einige Zeit, bis Bert den Anwalt einigermaßen überzeugt hatte, dass er auf Birgits Seite stand und nicht etwa eine Scheidung beabsichtigte, aber sagen konnte ihm Dr. Biel auch nicht, wo Birgit sich jetzt aufhielt. Er war entsetzt, als Bert ihm sagte, dass sie heimlich das Sanatorium verlassen hatte.
»Da bin ich auch vom Chefarzt falsch informiert worden«, sagte er. »Aber überlegen wir mal …« Er schlug sich an die Stirn. »Man muss in allen Krankenhäusern nachfragen«, sagte er dann hastig. »Ich will nicht sagen, dass sie sich etwas angetan hat, dazu ist sie nicht der Mensch. Sie ist sehr gläubig, allein das half ihr, den Tod ihrer Eltern zu überwinden. Sie sind sich anscheinend bisher gar nicht bewusst gewesen, welch ein wertvoller Mensch Ihre Frau ist, Herr Blohm.«
»Ich liebe meine Frau«, sagte Bert leise. »Ich gebe zu, dass ich nicht allzu viel über sie nachgedacht habe, solange sie bei mir war. Sie war einfach da, verstehen Sie, und ich liebte sie, wie sie war. Ich wusste auch nicht, wie sehr ich sie liebe.«
»Sie wissen auch nicht, wie sehr sie unter Ihrer despotischen Mutter gelitten hat«, sagte Dr. Biel.
»Ich beginne es zu begreifen. Birgit hat sich nie beklagt.« Es klang wie eine Verteidigung.
»Sie ist nicht der Mensch, der jammert, und was hätte es ihr schon genützt? Ihre Mutter führte doch das Regiment in dem Haus, das durch Birgits Geld erhalten blieb. Ich muss Ihnen jetzt einige bittere Wahrheiten sagen, Herr Blohm. Birgit hätte darüber nie zu Ihnen gesprochen, aber sie war sich durchaus im Klaren, dass nur ihr Geld für Ihre Mutter entscheidend gewesen war. Für ihre Frau war es selbstverständlich, dass alles, was ihr gehörte, auch Ihnen gehören sollte. Sie folgte nicht meinem Rat, sich abzusichern, denn auch das muss ich Ihnen sagen, ich sah schwarz für Ihre Ehe. Ich kannte Birgit schon als Kind. Ich war mit ihrem Vater befreundet. Menschen ohne Fehl und Tadel waren ihre Eltern, ist auch sie. Wenn Birgit etwas geschehen ist, was nicht mehr gutzumachen ist, werde ich keine vornehme Zurückhaltung üben, wie Birgit es getan hat. Ich werde …«
»Bitte, sprechen Sie nicht weiter«, fiel ihm Bert ins Wort. »Ich weiß, was Sie empfinden, und ich empfinde ebenso. Ich bin entsetzt über das Benehmen meiner Mutter, aber bis heute ist mir das alles nicht bewusst gewesen. Und nun stehe ich mit meinem Jungen da und weiß nicht, wohin mit ihm.«
»Sie wollen nicht zu Ihrer Mutter zurück?«, fragte Dr. Biel.
»Nein.« Es klang sehr bestimmt. »Ich könnte es Toby nicht antun.«
Dr. Biel überlegte einen Augenblick und sagte schließlich:
»Toby könnte bei uns bleiben«, er warf Bert einen kurzen Blick zu, »meine Frau betreut oft unsere Enkelchen. Sie versteht es, mit Kindern umzugehen. – Aber nun ist es doch wohl wichtig, dass wir Birgit finden, bevor noch mehr Zeit verstreicht.«
Seine Privatwohnung war im selben Haus, ein Stockwerk höher.