Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
zu sein. Die lassen ja das Wild, das sie schießen, nicht liegen, wie er es tut. Aber manchmal scheint er auch nur so herumzuknallen. Manchmal denke ich, dass es so ein Kerl ist, der dem Gruber-Bauern schaden will. Aber aus dem bekommt man ja nichts heraus. Ein seltsamer alter Mann, aber mit Bambi ist er rein närrisch. Jetzt will er auch nicht mehr, dass Jonny auf die Spur von dem Wilderer gehetzt wird, weil es Bambis Hund ist. Dieses Kind hat die seltene Gabe, das härteste Herz zu erweichen.«
»Vielleicht hat er gar kein hartes Herz«, sagte Sabine nachdenklich. »Vielleicht ist er nur einer jener einsamen Menschen, die verlernt haben, an die Liebe zu glauben.«
»Oder nie welche erfahren haben«, bemerkte Sandra. »Wie ich hörte, hatte er einmal eine Nichte, die er sehr gerngehabt haben soll. Sie verließ die Heimat und wurde eine berühmte Pianistin. Hier hat sie sich nie wieder blicken lassen, und deswegen soll er verbittert sein. Aber man kann auch nicht alles glauben, was erzählt wird. Jeder macht ein bisschen was dazu, und dann ist das schönste Märchen fertig. Aber wir wären alle froh, wenn dieser schießwütige Bursche endlich dingfest gemacht würde. So etwas passt gar nicht hierher. Um noch einmal auf Lisa zurückzukommen, was soll nun mit ihr werden? Ein so entzückendes Mädchen. Es ist wirklich ein Jammer.«
»Ja, es ist ein Jammer«, sagte Sabine leise.
*
Lisa Thewald – unter diesem Namen lebte sie nun bereits seit siebzehn Jahren – war wirklich ein entzückendes Mädchen. Man vergaß ihr Leiden, wenn sie so lächelte, wie jetzt, als sie sich von dem hochgewachsenen jungen Mann verabschiedete.
Sie befand sich seit drei Wochen in dem Sanatorium von Dr. Valdere in der Nähe von Cannes. Heute hatte Michael von Jostin, Sabines Bruder, sie besucht.
Er hatte Hemmungen gehabt, mit dem jungen Mädchen zu sprechen, das ihn zwar verstehen, aber selbst nichts erwidern konnte. Doch dann war es ihm plötzlich ganz leichtgefallen, weil Lisas Gesicht so unendlich viel auszudrücken vermochte und weil er schon bald die Worte von ihren Lippen lesen konnte. So schnell wie Michael war das noch niemandem gelungen. Dr. Fernand staunte.
Nicolas Allards Freund hatte sich lange mit Dr. Valdere über Lisa unterhalten. Er wusste, wie sehr das Schicksal des Mädchens Nicolas beschäftigte, und auch bei ihm, der ebenfalls Arzt war, erregte dieser Fall großes Interesse.
»Meiner Ansicht nach kann nur ein gewaltiger Schock helfen«, erklärte Dr. Valdere, ein alter, sehr erfahrener Arzt. »Ich möchte sogar sagen, dass ein Panikzustand herbeigeführt werden müsste, um diese Stimmbandlähmung zu heilen. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist«, räumte er ein. »Immerhin sind bereits siebzehn Jahre seit dem Unglück vergangen, und damals war sie ein kleines Kind. Aber ihre psychische Entwicklung ist völlig normal. Darüber gibt es keinen Zweifel. Ich habe sie allen möglichen Tests unterzogen. Sie ist in vielen Dingen ein Kind, aber ein ungewöhnlich intelligentes, aufgeschlossenes Kind von unglaublicher Wissbegierde. Vielleicht könnte ihr auch ein Liebeserlebnis helfen, eines, in dem ihr ihre Bestimmung als Frau offenbar würde. Dieser junge Mann scheint ihr sehr zu gefallen.«
»Michael von Jostin?«, fragte André atemlos. »Oh, ich fürchte … Nein, solche Gedanken sollten wir lieber nicht weiterspinnen.«
Ein seltsam wissendes Lächeln legte sich um Dr. Valderes schmalen Mund, und es war auch in seinen Augen.
»Ich meine eine seelische Erschütterung«, betonte er, »gleichgültig, ob sie sich positiv oder negativ auf Lisas Gemüt auswirken würde. Aber wenn mit unseren medizinischen Hilfsmitteln nichts mehr zu machen ist, kommt man wohl auf die ausgefallensten Ideen.«
Lisa, die von diesem Gespräch nichts wusste, lächelte zu Michael empor. Er war viel größer als sie. Sie reichte ihm nur knapp bis zur Schulter, und ihm erschien sie wie ein zerbrechliches Nippfigürchen.
»Ich habe es mir überlegt, Lisa«, sagte er. »Ich komme gleich nächste Woche mit euch und überrasche Sabine. Gefällt Ihnen das?«
Ihre Augen strahlten wie Sterne, und sie nickte eifrig. Ihm war plötzlich die Kehle ganz eng.
»Es muss schön sein am Sternsee, wenn Frühling ist, und nun ist bald Frühling.«
Wieder nickte sie. Dann bückte sie sich und umfasste behutsam eine Blume.
Er beugte sich etwas herab.
»Sie meinen, dass am Sternsee dann auch Blumen blühen?«
Ihre Lippen formten ein Ja, und ihr Mund war so süß und zärtlich, dass er den brennenden Wunsch verspürte, ihn zu küssen.
Bist du verrückt geworden, Michael, schalt er sich. Das war nicht ein Mädchen, das man einfach in den Arm nahm, weil einem danach zumute war. Mit Lisa musste man ganz behutsam umgehen, und vielleicht war es auch falsch, so vertraut mit ihr zu reden.
Aber er konnte nicht anders, und wenn er in ihre wunderschönen reinen Augen blickte, wurde ihm ganz heiß. »Ich werde noch mit André verabreden, wann wir fahren«, sagte er leise. »Auf Wiedersehen, Lisanne.«
Ein Zucken lief über ihr Gesicht. Ein seltsamer Ausdruck kam in ihre Augen, und es war, als lausche sie in sich hinein.
»Lisanne klingt hübsch«, flüsterte er. »Gefällt es dir, kleines Mädchen?«
Betroffen sah er den Schleier aufsteigender Tränen. Ihre Lider senkten sich rasch. Zart legte er einen Finger an ihre Wange.
»Darf ich nicht du zu dir sagen?«, fragte er.
Sie griff plötzlich nach seiner Hand, drückte ihre weichen Lippen darauf, wandte sich dann um und lief davon.
Konnten Worte mehr ausdrücken, fragte er sich, aber die Antwort war nein.
Michaels Herz klopfte wie ein Hammer. Vielleicht würde ihn niemand verstehen, aber er wusste in diesem Augenblick, dass dieses Herz für Lisa schlug, für Lisanne, wie er sie zärtlich genannt hatte.
Er beugte sich hinab und pflückte die Blume, die sie vorhin so zart umschlossen hatte. Er legte sie in sein Notizbuch und achtete darauf, dass die Blätter glatt gepresst wurden. Die Blüte einer Azalee, und in der Villa Azalee am Sternsee würde er mit Sabine über Lisa sprechen, die selbst wie eine Blume war.
*
André sah die Tränenspuren in Lisas Augen, obgleich sie sich bemüht hatte, sie sorgfältig zu entfernen.
»Hat Michael dich gekränkt?«, fragte er erschrocken.
Sie schüttelte den Kopf, um dann zu Boden zu blicken. Er wusste, dass man sie nicht Dinge fragen durfte, die ihre Gefühle betrafen. Aber er ahnte, dass etwas in ihrem jungen Herzen vor sich ging, was sie erschütterte.
Er nahm sich vor, mit Michael zu sprechen, damit er keine falschen Hoffnungen in ihr erweckte.
Am Abend fuhr er zu dem herrlichen Landsitz, den Gräfin Josette Michael vererbt hatte.
Michael empfing ihn in der Wohnhalle, die von dem Gemälde der Gräfin beherrscht wurde. Anders konnte man es nicht bezeichnen, denn unwillkürlich zog es in seiner lebendigen Faszination jeden Blick an.
Es hätte auch ein Bild von Sabine sein können, so ähnlich waren sich die beiden Frauen.
»Nett, dass du mir Gesellschaft leisten willst, André«, sagte Michael. »Ich wollte ohnehin mit dir sprechen.«
»Über Lisa?«, fragte André sehr direkt.
»Ja, über Lisa. Das heißt, über die Heimfahrt. Ich werde mitkommen.« Andrés Augen verengten sich. »Hast du dir das gut überlegt?«
»Ja, gewiss. Es war zwar ein impulsiver Entschluss, aber er gefällt mir. Ich möchte doch mal sehen, was man aus dem alten Bau gemacht hat.«
»Und nebenbei mit Lisa flirten?«, fragte André hart.
Michaels Augen schoben sich zusammen.
»Ich will nicht flirten«, erwiderte er gereizt. »Bist du ihr Vormund?«
»Sie steht unter meinem Schutz! Ich habe es Nicolas versprochen!«