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Post mortem. Amalia ZeichnerinЧитать онлайн книгу.

Post mortem - Amalia Zeichnerin


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Frau mit den seltsamen Rötungen und Schwellungen. Mit einem Mal war ihm schwindelig. Er musste sich setzen. Unsicher wankte er zu dem anderen Stuhl, der nur wenige Schritte entfernt stand.

      »Was ist passiert?«, fragte seine Frau leise.

      Clarence umklammerte die Stuhllehne, er brauchte den zusätzlichen Halt. Ruhe bewahren! Auf keinen Fall durfte er jetzt den Kopf verlieren. Er war nicht mehr im Krimkrieg, es war lange her. All die Leichen, all der Tod und der grässliche Geruch von Schießpulver, Blut und einsetzender Verwesung … Kalter Schweiß brach ihm aus, seine Hände waren mit einem Mal klamm.

      Clarence straffte sich und konzentrierte sich auf das vertraute Gesicht seiner Frau. Er atmete zwei, drei Mal bewusst langsam ein und aus, so wie Doktor Tyner es ihm schon damals geraten hatte, wenn die grässlichen Bilder wieder auf ihn eingestürmt waren. Ein … aus … ein … aus. Allmählich beruhigte sich sein rasendes Herz.

      Stockend begann er zu erzählen. »Ich sollte eine Abbildung von ihr anfertigen. Miss Westray sagte, sie wolle sich damit an der Königlichen Oper bewerben. Ich … ich sah, dass sie etwas aß, als ich mit der Glasplatte aus der Dunkelkammer kam. Sie schluckte es hinunter und ich vermutete zunächst, dass es ihr vielleicht im Rachen stecken geblieben war. Also klopfte ich ihr kräftig auf den Rücken. Doch das half nicht. Oh Mabel, ich weiß doch auch nicht, warum sie erstickt ist! Ich begreife das nicht, wie kann das sein?«

      Seine Frau betastete den Hals der Verstorbenen. »Diese Schwellungen und Rötungen sind seltsam. So etwas passiert eigentlich nicht, wenn man sich verschluckt.« Ihre Stimme klang nun gefasst, was nicht zu ihren verquollenen, geröteten Augen passen wollte. Andererseits – sie war Krankenschwester gewesen, hatte dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt. Das hatte einen Teil ihres Lebens geprägt, und offenbar griff sie nun auf die ruhige Sachlichkeit von damals zurück, mit der er sie in jenen schrecklichen Tagen im Krieg als verwundeter Soldat kennengelernt hatte.

      Mabel bückte sich nach Miss Westrays Handtasche. »Ich werde einmal schauen, ob ich herausfinde, was sie gegessen hat. Vielleicht hatte sie einen Apfel dabei oder …« Sie kramte in der Handtasche und zog eine kleine Pralinenschachtel heraus, wie man sie in manchen Konditoreien bekommen konnte. »Bromleys Pralinen – feine Schokoladenpralinen mit einer Apfel-Zimt-Füllung«, las sie die Beschriftung vor. Sie öffnete die Schachtel, sodass Clarence den Inhalt sehen konnte. Wie es aussah, fehlte nur eine einzige Praline.

      »Wie seltsam! Ich denke nicht, dass sie sich an der Praline verschluckt hat. Mir scheint, die Rötungen passen nicht dazu. Näheres lässt sich aber wohl erst sagen, wenn sich ein Gerichtsmediziner die Leiche angeschaut hat.«

      Clarence sah seine Frau überrascht an. »Du meinst, ihr Tod ist ein Fall für die Gerichtsmedizin?«

      »Ganz sicher bin ich mir nicht, man müsste sie genauer untersuchen. Auf jeden Fall müssen wir Doktor Tyner verständigen.«

      Der Coroner hier im Stadtteil war ein Bekannter von ihnen. Er arbeitete zudem im Leichenschauhaus als Gerichtsmediziner. Im Krimkrieg war Gerald Tyner Militärarzt gewesen. Mabel kannte ihn noch von damals, als sie in seinem Lazarett gearbeitet hatte. Sie hatte eine Menge von ihm gelernt und half ihm gelegentlich aus, wenn er zu viel zu tun hatte.

      »Ich werde ihn suchen«, sagte er, doch Mabel schüttelte den Kopf.

      »Würdest du dich stattdessen um die Abbildung kümmern?«, bat sie ihn. »Vielleicht kann sie uns etwas über den Tod der armen Pauline verraten. Ach Gott, sie hatte noch so viele Pläne und glänzende Zukunftsaussichten … Sie war eine wirklich talentierte Sängerin. Und nun wurde sie plötzlich aus dem Leben gerissen.« Mabel schniefte und wischte sich mit der Hand wenig damenhaft über das Gesicht. »Ich suche Doktor Tyner, wenn es dir recht ist.«

      Clarence ließ sich das alles durch den Kopf gehen. In gewisser Weise war der einzige Zeuge dieses Todesfalls seine Kamera. Vermutlich würde es nicht viel bringen, aber einen Versuch war es wert. Er nickte. »In Ordnung.«

      Nachdem Mabel das Atelier verlassen hatte, ergriff Clarence die Kamera mit beiden Händen und kehrte in die Dunkelkammer zurück. Die Routine der vertrauten Abläufe. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Durfte sich nicht von Erinnerungen an die Begegnung mit dem Tod während des Krieges überrollen lassen. Nur die Ruhe!

      Aber ach, das war leichter gesagt als getan. Ihm zitterten die Finger, unkontrollierbar. Um ein Haar hätte er die Kamera fallen lassen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt! In der Kammer stellte er hastig das Gerät ab und ballte die Hände zu Fäusten, bis endlich die Anspannung nachließ und das vermaledeite Zittern aufhörte.

      Vorsichtig nahm er die Glasplatte aus ihrer Kassette und übergoss sie mit einer Eisensulfatlösung. Er fixierte das gläserne Negativ und löste das enthaltene Silberiodid und das Silberbromid mit einer Natriumthiosulfatlösung heraus. Danach wusch er die Platte vorsichtig und überzog sie mit einem Alkoholfirnis. Ein erster Blick darauf zeigte ihm die zusammengesunkene, regungslose Gestalt von Miss Westray. Ein Albuminpapierabzug würde ähnlich aussehen als Positiv in bräunlichen und weißen Tönen.

      Eine Post-Mortem-Abbildung. Wenn Kinder oder ältere Menschen starben, machten sich manche Angehörige – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – die Mühe, eine Abbildung der Verstorbenen erstellen zu lassen, bevor die Verwesung einsetzte und der Leichnam den Weg alles Irdischen ging. Das war gängige Praxis, auch sein Vater hatte solche Bilder angefertigt. Clarence selbst scheute davor zurück. Im Krieg hatte er so viele Leichen, so viele Tote gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Und nun saß ein Leichnam auf dem Stuhl in seinem Atelier …

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       Kapitel 2 – MABEL

      Mabel wischte sich über das verweinte Gesicht. Die Tränen waren ihr peinlich, draußen vor den Leuten, aber wohin sollte sie sonst mit ihrer Trauer? Unfassbar, dass Miss Westray aus dem Leben geschieden war. Über gemeinsame Bekannte, die Porters, hatte sie die junge Frau kennengelernt. Sie war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie hatten einmal über Mabels Familie gesprochen, und bei allen weiteren Treffen hatte sich Miss Westray nach ihren Angehörigen erkundigt und das offenbar nicht nur als höfliche Floskel gemeint.

      Mabel erinnerte sich noch gut an ein gemeinsames Gespräch, als sie beide und einige andere Damen bei Mrs Porter zum Tee eingeladen gewesen waren.

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      »Wann möchten Sie denn eine Familie gründen, Miss Westray?«, erkundigte sich Mrs Porter.

      »Das weiß ich noch nicht. Erst einmal möchte ich an der Oper singen, das hat für mich oberste Priorität.« Miss Westray schenkte den anwesenden Damen ein schiefes Lächeln. »Meine Mutter wirft mir hier Ehrgeiz an der falschen Stelle vor. Mögen Sie Musik, Mrs Porter?«

      »Ja, natürlich, keine Frage! Das geht uns sicher allen so.«

      Mabel und die anderen Damen stimmten dem zu.

      »Sehen Sie. Musik braucht ja nicht nur Hörende, sondern auch jene, die sie zum Klingen bringen. Ich möchte Menschen mit meinem Gesang erfreuen, aber auch mich selbst, das muss ich zugeben. Dabei denke ich ganz gewiss nicht im Kleinen. Ich möchte ein ganzes Theater mit meinem Gesang füllen, das ist mein größter Wunsch. Wenn ich das erreicht habe, dann – und erst dann – werde ich über eine Ehe nachdenken.«

      »Aber haben Sie denn keine Angst, dass Sie als alte Jungfer enden könnten?«, fragte Mabel. »Je älter Sie werden, desto schwieriger wird es doch mit einer Eheschließung. Wissen Sie, in meinem Haus leben zwei ältere Damen, die sich eine Wohnung teilen. Miss Clover und Miss Gettis. Beide haben nie geheiratet und auch keine Kinder zur Welt gebracht. Sie sagten mir, es hätte sich für sie einfach nicht ergeben.«

      Miss Westray lächelte. »Ich kann mich nur wiederholen. Meine erste Priorität ist der Gesang. Alles andere stelle ich hintan, auch wenn es nicht


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