Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
blickte ihrer Mutter nach und strich über den Umschlag. Die Miete für diese Bruchbude betrug achthundert Dollar. Ihre Mum ging dafür im Stadtarchiv putzen, ihr Dad schob eine extra Schicht nach der nächsten und trotzdem reichte das Geld kaum. Sie drückte den Umschlag an ihre Brust. Wenn sie den Wettbewerb gewinnen würde, könnte sie vorübergehend einen Teil der Miete übernehmen. Dad müsste nicht so viele Überstunden machen und könnte mal zur Ruhe kommen. Oder sich einen richtigen Arzt leisten und sich nicht nur in der Notaufnahme versorgen lassen. Außerdem war da ja noch die Praktikantenstelle bei Lucian. Die würde Olivia definitiv die nötigen Kontakte und Chancen bringen, in der Fotobranche Fuß zu fassen. Sie könnte auch etwas zum Lebensunterhalt beitragen.
Doch all das führte zurück zu ihren beiden Problemen. Erstens: Der Wettbewerb musste stattfinden. Zweitens: Sie brauchte das perfekte Bild dafür. Und das war nur möglich, wenn sie das richtige Equipment besaß. Auf einmal fühlte sich der Umschlag in ihren Händen wärmer an. Alles was sie dazu brauchte, war das Geld darin zu Ed zu tragen, das 1.4er zu kaufen, Fotos zu schießen und das Objektiv morgen wieder zurückzugeben. Sie könnte ihm sagen, dass sie nicht damit klargekommen war, dass sie es sich anders überlegt hatte. Ed würde nie merken, wie viele Fotos sie damit geschossen hatte. In Kombination mit der Kamera aus der Redaktion konnten richtig gute Bilder dabei herauskommen.
Sie steckte den Umschlag mit dem Geld in ihre Handtasche. »Ich bin gleich wieder da, Maria.«
Alles was sie als Antwort erhielt, war ein aufgedrehter Bass irgendeines neuen Liedes, das Maria zurzeit rauf und runter hörte. Das war Marias Art, mit Dads schlechter Verfassung klar zu kommen. Sich einsperren und Musik hören. Olivia würde später nach ihr sehen. Jetzt musste sie erst einmal zu Mister Cohen und sich eine gute Ausrede zurechtlegen, warum er die Miete erst ein paar Tage später erhalten würde.
*
Eine Stunde später
Olivia saß in ihrem Wagen und strich über die Ummantelung des Objektivs. Es fühlte sich kühl und schön und wertvoll an.
Das Gespräch mit Mister Cohen war besser gelaufen als erwartet.
Als er mit seinem alten 911er die Straße einbog, zog Olivia ihr Kleid zurecht (Mister Cohen mochte Kleider, vor allem, wenn sie kurz und eng saßen) und lief ihm bereits auf der Auffahrt entgegen. Sie hatte sich extra vorher etwas Wasser ins Gesicht und aufs Dekolletee gesprüht, damit es aussah, als wäre sie gerannt. Während Mister Cohen also in ihren Ausschnitt glotzte und sich überlegte, ob ihre Brüste bei der Atemgeschwindigkeit nicht aus dem Kleid hüpfen mussten, erzählte sie ihm ihre Story. Ihr Dad wäre mal wieder im Krankenhaus – was stimmte – und sie wäre den ganzen Weg hierher zurückgerannt – Lüge –, um ihm persönlich zu sagen, dass er die Miete leider erst übermorgen haben könnte. Zwischen den Sätzen machte sie immer wieder theatralische Pausen, in denen sie Mister Cohen mit ihren Kulleraugen anblickte und sich die Tränen wegwischte. Dank ihrer spanischen Wurzeln beherrschte Olivia den Unschuldsblick aus dem Effeff. Es war von Vorteil, große dunkle Augen zu haben, die von einem olivfarbenen Teint und schwarzen Haaren umrahmt wurden. Solange Mister Cohen ihr nicht zu nahe kommen würde, würde ihm auch nicht der Zwiebelgeruch auffallen. Irgendwie hatte sie sich ja zum Weinen bringen müssen.
Ihr Plan ging auf. Mister Cohen gewährte zwei Tage Aufschub, machte allerdings – mit einem weiteren Blick auf ihren Busen – deutlich, dass ab da die Sache mit ihrem Vater nicht mehr ziehen würde. Olivia griff nach seinen Händen und bedankte sich überschwänglich. Dann stürmte sie davon, trug die Miete direkt zu Ed und kaufte das 1.4er-Objektiv.
In der Sekunde, als sie sie in der Hand hielt, wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte. Was für eine Linse! Sie war nicht aus diesem Billig-Plastik, sondern hatte diese schöne und kühle Metallummantelung. Dazu lag sie schön schwer in der Hand, und allein der Haptik wegen könnte sie sie den ganzen Tag herumtragen. 1.4er-Blende bei 85 Millimetern. Damit könnte sie bei Offenblende die schönsten Nachtaufnahmen knipsen, selbst mit der alten D2er-Cam aus der Redaktion.
»Ich brauche nur noch eine coole Location«, sagte Olivia und bettete das Objektiv zurück in die Fototasche. Es musste ein außergewöhnlicher Ort sein, wo niemand sonst hinkommen würde. Vielleicht unten am Strand, aber da hatte sie schon Bilder für den letzten Wettbewerb geschossen. Auf alle Fälle wollte sie keinen Platz, der schon zigmal fotografiert worden war. Sie brauchte etwas Einmaliges. Das Klingeln ihres Smartphones riss sie aus den Grübeleien. Sie sah aufs Display. Randys Foto lachte ihr entgegen. Olivia nahm ab. »Hi, Randy.«
»Hi. Ich wollte nur fragen, ob das morgen mit der Galerie klappt.«
»Ich denke schon.«
»Gut.«
»Ja.« Olivia tippte auf dem Lenkrad herum. »Du kennst nicht zufällig eine außergewöhnliche Location zum Knipsen, oder? Ich muss ein paar schicke Nachtaufnahmen machen.«
»Nicht aus dem Stegreif, aber warte mal.« Sie hörte Randy irgendetwas tippen. Saß er eigentlich auch mal nicht vor der Kiste? »Ah, hier. Wie wäre es mit der alten Highschool aus den 80ern? Das Gebäude steht noch, aber … warte, hier ist ein Eintrag von einem anderen Fotografen … ne, kannste vergessen. Ist alles abgeschlossen. Da kommen wir nicht rein, es sei denn, wir schlagen ein Fenster ein. Ich suche weiter … Oh, das wäre vielleicht was. Der alte Jahrmarkt draußen auf Angel Island.«
»Das ist dort, wo dieser Geschäftsmann nach Öl gebohrt hat und das Fracking läuft, oder?« Randy hatte davon während der Fahrt zum Hafen vor ein paar Tagen erzählt.
»Ja, genau. Auf der Insel war früher ein Jahrmarkt aufgebaut. Ein Teil der Fahrgeschäfte steht noch, genau wie das Riesenrad. Da könntest du fündig werden.«
»Perfekt. Ich hole dich in fünfzehn Minuten ab.«
»Äh, wozu?«
»Du wirst mich begleiten. Du hast doch am Hafen schon öfter mit Mason protestiert.«
»Schon, aber ich wollte mich gerade bei WoW einloggen.«
»Vergiss es. Fünfzehn Minuten. Halte dich bereit.«
»Bei deinem Fahrstil rechne ich eher mit zehn.«
Olivia grinste, legte auf und gab Gas. Auf zur Fotojagd.
*
Im Haus der Familie Collister
Zur selben Zeit
»Verdammtes Ding.« Mason band zum x-ten Mal die Krawatte neu. Er hasste diese Teile und hatte noch nie ein Händchen dafür gehabt, den perfekten Knoten zu binden. Warum lasse ich mich nur auf diese Sache ein?, fragte er sich zum ebenso vielten Mal wie er die Krawatte neu band. Er hätte zu Hause bleiben sollen, ein paar Bälle in der Auffahrt werfen oder mit Randy abhängen. Alles wäre besser gewesen als auf eine Gedenkfeier zu gehen, bei der ihn erstens alle anstarren würden und er zweitens einen Anzug mit Schlips tragen musste.
»Mann!« Mason zerrte die Krawatte vom Hals und schleuderte sie ins Waschbecken. Dann würde er eben ohne gehen. Vermutlich würde das eh keiner bemerken, sie wären viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Mäuler zu zerreißen. »Schaut mal, da kommt der Drogenjunge. Der Versager, der Nichtsnutz, … war ja klar, wo das mit ihm enden wird.«
Mason kannte die Sprüche, die Blicke, die Gesten. Seit der Drogengeschichte war es noch viel schlimmer geworden. Brian Bruker hatte sich zum neuen Star an der Schule hochgearbeitet und erzählte jedem der es hören wollte – oder auch nicht –, was für ein Versager Mason Collister war.
»Er hat ja recht.« Mason nahm sich etwas Wachs und bändigte seine welligen blonden Haare. Er hatte die leichten Locken seiner Mutter geerbt und musste meist nicht viel machen, damit sie richtig saßen. Im Gegensatz zu Randy. Der brauchte vermutlich ne Dose Haarspray pro Woche, bis die Wuschelhaare nicht mehr wuschelten.
Unten schellte die Haustür. Das war bestimmt Danielle. Ob sie wieder mit Chauffeur da war? Wie hatte er geheißen?