Eine Studie in Scharlachrot. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
ich, sehr überrascht über seine Begeisterung.
»Da war letztes Jahr der Fall Von Bischoff, in Frankfurt. Man hätte ihn sicherlich gehängt, wenn es diese Methode gegeben hätte. Dann gab es Mason aus Bradford, und den berüchtigten Muller, und Lefevre aus Montpellier, und Samson aus New Orleans. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen aufzählen, bei denen diese Probe entscheidend gewesen wäre.«
»Sie scheinen ein wandelnder Kriminalkalender zu sein«, sagte Stamford lachend. »Sie sollten eine Zeitschrift zu diesem Thema herausgeben. Nennen Sie sie ›Neueste Polizeiberichte von gestern‹.«
»Und das könnte eine sehr interessante Lektüre werden«, bemerkte Sherlock Holmes. Er klebte ein winziges Pflaster über die Stichwunde in seinem Finger. »Ich muß vorsichtig sein«, ergänzte er, wobei er mir zulächelte, »weil ich nämlich häufig mit Giften hantiere.« Dabei streckte er seine Hand aus, und ich sah, daß sie überall von ähnlichen Pflästerchen gescheckt und durch starke Säuren verfärbt war.
»Wir sind mit einem Anliegen gekommen«, sagte Stamford. Er setzte sich auf einen hohen, dreibeinigen Schemel und schob mir einen weiteren mit dem Fuß zu. »Mein Freund hier sucht einen Unterschlupf, und weil Sie sich beklagt haben, daß keiner mit Ihnen eine Wohnung teilen will, habe ich mir gedacht, daß ich Sie beide am besten zusammenbringe.«
Sherlock Holmes schien erfreut über die Idee zu sein, seine Räume mit mir zu teilen. »Ich habe ein Auge auf ein Appartement in der Baker Street geworfen«, sagte er, »das genau das Richtige für uns wäre. Sie haben hoffentlich nichts gegen den Geruch von starkem Tabak?«
»Ich rauche selbst Navytabak«, antwortete ich.
»Sehr gut. Außerdem habe ich normalerweise Chemikalien bei mir und mache manchmal Experimente. Würde Sie das stören?«
»Absolut nicht.«
»Mal sehen – was habe ich noch an Unzulänglichkeiten? Manchmal, da blase ich Trübsal und mache tagelang den Mund nicht auf. Sie dürfen dann nicht meinen, ich wäre verärgert. Lassen Sie mich in Frieden, und ich bin bald wieder in Ordnung. Na, und was haben Sie zu beichten? Ich finde, zwei Leute sollten das Schlimmste voneinander wissen, bevor sie anfangen, zusammen zu leben.«
Ich lachte über dieses Kreuzverhör. »Ich habe eine junge Bulldogge«, sagte ich, »und ich habe etwas gegen Lärm, weil meine Nerven zerrüttet sind, und ich stehe zu allen möglichen gottlosen Zeiten auf, und ich bin äußerst träge. Wenn es mir gut geht, habe ich noch eine ganze Reihe von Lastern, aber das sind die wichtigsten, im Augenblick.«
»Fällt Geigespielen für Sie in die Kategorie Lärm?« erkundigt er sich besorgt.
»Das hängt vom Spieler ab«, antwortete ich. »Eine gut gespielte Geige ist ein Geschenk für die Götter – eine schlecht gespielte ...«
»Oh, dann ist es gut«, rief er mit einem fröhlichen Lachen. »Ich glaube, wir können die Sache als abgemacht betrachten – das heißt, wenn Ihnen die Zimmer gefallen.«
»Wann können wir sie ansehen?«
»Kommen Sie morgen gegen Mittag hierher zu mir, und dann gehen wir zusammen dorthin und regeln alles«, erwiderte er.
»In Ordnung – Punkt Mittag«, sagte ich. Ich schüttelte ihm die Hand.
Wir ließen ihn mit seinen Chemikalien zurück und gingen zusammen in Richtung meiner Pension.
»Sagen Sie mal«, fragte ich plötzlich, wobei ich stehenblieb und mich Stamford zuwandte, »woher zum Teufel wußte er, daß ich aus Afghanistan gekommen bin?«
Mein Begleiter lächelte rätselhaft. »Das ist eben seine kleine Besonderheit«, sagte er. »Viele Leute wollten schon wissen, wie er Dinge herausfindet.«
»Aha, das ist also ein Rätsel?« rief ich und rieb mir die Hände. »Das ist sehr aufregend. Ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie uns zusammengebracht haben. Sie wissen ja: ›Das wahre Forschungsgebiet8 des Menschen ist der Mensch‹.«
»Dann erforschen Sie ihn«, sagte Stamford, als er sich von mir verabschiedete. »Aber Sie werden feststellen, daß er ein verwickeltes Problem ist. Ich wette, er findet mehr über Sie heraus als Sie über ihn. Goodbye.«
»Goodbye«, gab ich zurück und schlenderte zu meiner Pension. Ich war von meinem neuen Bekannten ungemein gefesselt.
2. Die Wissenschaft der Deduktion
Wie von ihm festgesetzt, trafen wir uns am nächsten Tag und inspizierten die Räumlichkeiten von Nr. 221 B, Baker Street, über die wir bei unserer Begegnung gesprochen hatten. Sie bestanden aus zwei gemütlichen Schlafzimmern und einem gemeinsamen, großen, luftigen Wohnraum, der fröhlich möbliert war und von zwei breiten Fenstern erhellt wurde. Die Zimmer waren insgesamt so ersprießlich, und die Kosten, geteilt durch uns beide, erschienen uns so maßvoll, daß die Verhandlungen auf der Stelle zu einem Abschluß gebracht wurden und die Wohnung sogleich in unseren Gebrauch überging. Noch am gleichen Abend brachte ich meine Habseligkeiten aus dem Hotel herbei, und am nächsten Morgen folgte Sherlock Holmes mir mit mehreren Kisten und Schrankkoffern. Einen Tag oder zwei waren wir vollauf damit beschäftigt, unsere Besitztümer auszupacken und in möglichst vorteilhafter Weise unterzubringen. Nachdem dies geschehen war, begannen wir, ansässig zu werden und uns an die neue Umgebung zu gewöhnen.
Mit Holmes war keineswegs schwierig auszukommen. Er war von ruhiger Art und hatte geregelte Gewohnheiten. Selten war er nach zehn Uhr abends noch auf den Beinen, und immer hatte er bereits gefrühstückt und das Haus verlassen, bevor ich morgens aufstand. Bisweilen verbrachte er den Tag im Chemie-Laboratorium, manchmal in den Sezier-Räumen, und gelegentlich auf langen Spaziergängen, die ihn in die niedersten Teile der Stadt zu führen schienen. War er arbeitswütig, so vermochte nichts seine Energie zu übertreffen; hin und wieder setzte jedoch eine Reaktion ein, und dann pflegte er tagelang auf dem Sofa im Wohnraum zu liegen, wobei er vom Morgen bis zum Abend kaum ein Wort sagte oder einen Muskel bewegte. Bei derlei Gelegenheiten habe ich in seinen Augen einen solch verträumten, leeren Ausdruck bemerkt, daß ich ihn hätte verdächtigen mögen, irgendeinem Narkotikum zu frönen, hätte nicht die Mäßigung und Reinlichkeit seiner ganzen Lebensführung eine derartige Annahme verboten.
So verstrichen die Wochen, und mein Interesse an ihm wie auch meine Neugier bezüglich seiner Lebensziele vertieften und mehrten sich allmählich. Seine Gestalt und Erscheinung allein genügten, die Aufmerksamkeit des oberflächlichsten Beobachters zu erregen. Er war mehr als sechs Fuß groß und so ungeheuer hager, daß er noch weit größer wirkte. Seine Augen waren scharf und durchdringend, außer in jenen Zwischenzeiten der Lähmung, die ich erwähnt habe, und seine schmale, falkenhafte Nase verlieh ihm insgesamt den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschlossenheit. Auch sein Kinn hatte jene Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen. Unweigerlich waren seine Hände mit Tinte beschmiert und von Chemikalien befleckt, und doch besaß er ein außerordentliches Fingerspitzengefühl, wie zu beobachten ich oftmals die Gelegenheit hatte, wenn ich ihn die zerbrechlichen Instrumente seiner Welterforschung handhaben sah.
Der Leser mag mich als hoffnungslose Schnüffelnase abschreiben, wenn ich bekenne, wie sehr dieser Mann meine Neugier weckte und wie oft ich die Zurückhaltung zu durchdringen mich mühte, die er in allem an den Tag legte, was ihn betraf. Ehe man den Stab über mich bricht, bedenke man jedoch, wie ziellos mein Leben war und wie wenig es gab, das meine Aufmerksamkeit zu fesseln vermocht hätte. Meine Gesundheit erlaubte es mir nicht, das Haus zu verlassen, außer bei ungewöhnlich mildem Wetter, und ich hatte keine Freunde, die mir Besuche abstatten und die Eintönigkeit meines Alltags hätten unterbrechen können. Unter diesen Umständen begrüßte ich eifrig das kleine Mysterium, das meinen Gefährten umgab, und verwandte ein gut Teil meiner Zeit auf den Versuch, es zu erhellen.
Medizin studierte er nicht. Was das betraf, so hatte er auf unsere Frage hin Stamfords Ansichten bestätigt. Ebenso wenig schien er Vorlesungen belegt zu haben, die ihn befähigt hätten, einen wissenschaftlichen Grad oder irgendeinen anderen anerkannten Einlaß in die Welt der Gelahrten zu erwerben.