Eine illegitime Kunst. Pierre BourdieuЧитать онлайн книгу.
sich an konkrete Äußerungen hält, die, indem sie den Rückgriff auf theoretische Kenntnisse ausschließen, indirekt zu einer Rückbesinnung auf die Erfahrung einladen, d.h. auf die tatsächliche Praxis, um so deutlicher wird, daß die höheren Angestellten und Beamten die ästhetischen Ambitionen, die sie abstrakt beteuern, preisgeben, während die mittleren Angestellten relativ häufig an virtuoser Praxis festhalten.74 Muß man daraus schließen, daß die Urteile, mit denen sie der Photographie den Status einer Kunst zuerkennen, lediglich eine verbale Reverenz sind, die im praktischen Verhalten keine Entsprechung hat?75 In Wirklichkeit sind die Ambivalenzen und Widersprüche zwischen den Aussagen der Befragten und ihrem Verhalten letztlich wohl auf die Stellung der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste zurückzuführen. Einerseits ist sie wie jede Praxis, die sich künstlerischen Werten verpflichtet, eine Möglichkeit zur Umsetzung der ästhetischen Haltung, eine fortwährende und generelle Disposition; weil jedoch andererseits die photographische Praxis, selbst in ihrer vollendeten Version (und erst recht in der Form, die ihr jeder Amateur gibt) innerhalb der Hierarchie künstlerischer Tätigkeiten einen sehr niedrigen Rang einnimmt, fühlen sich die Amateurphotographen nicht bindend gehalten, ihre ästhetische Erfahrung in der Photographie zum Ausdruck zu bringen.76 Das erklärt, warum die sachliche Zustimmung zu den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie, die sich gelegentlich in Trotz oder Provokation äußert77, mindestens ebenso häufig ist wie der künstlerische Ehrgeiz, und zwar sowohl bei verschiedenen Personen wie bei ein und demselben Befragten.
Kurz, die Photographie kann als Kunst gelten, und sie ist niemals mehr als eine Kunst zweiter Ordnung. Daher bleibt auf diesem Gebiet die Barbarei oder die Inkompetenz ebenso folgenlos wie die Virtuosität: Zurückhaltende Zustimmung und nüchterne Ablehnung sind zwei ähnliche Verfahren, den relativen Wert auszudrücken, den man der Photographie beimißt, »eine Ausdrucksmöglichkeit, die wenig kostet und den Unbegabten vorbehalten ist« (höherer Angestellter, 42 Jahre). Die Befragten mit dem höchsten Bildungsgrad, die in ihren Kommentaren zur Ästhetik der Photographien überaus beredsam sind, hüten sich vor begeisterter Zustimmung und unbefangener Schwärmerei. Sic nehmen die Photographie für eine Möglichkeit, ästhetische Geschmäcker und Kenntnisse, die durch die Ausübung anderer Kunstfertigkeiten erworben wurden, anzuwenden:
»Ich bringe in die Photographie ästhetische Vorstellungen ein. Mein Urteil schaltet sich ständig ein, damit ich keine simplen Urlaubsphotos mache.« (Anwalt, 30 Jahre)
Jede Äußerung über die Photographie nimmt den Charakter eines Kunstgriffs an, einer rhetorischen Übung; man spielt hier mit Gefühlen oder Geschmäckern, die ihrem eigentlichen Gegenstand nicht entsprechen. Da sie keine wirkliche gesellschaftliche Sanktionierung genießt, vermag die Photographie ihren Wert einzig aus dem Willensdekret des Betrachters zu ziehen, der sich je nach Lust und Laune und nicht aufgrund kultureller Erfordernisse dafür entscheidet, ihr wie zum Scherz und für einen Augenblick die Würde eines Kunstgegenstandes zu verleihen. Anders ausgedrückt: Die ambitionierte Photographie kann sich nur so lange halten, solange die sanktionierten kulturellen Aktivitäten, etwa der Besuch von Konzerten oder Theaterinszenierungen, Museen oder Kinovorführungen, ihr keine Konkurrenz machen und sie entwerten. Ein Indiz dafür ist, daß die höheren Angestellten und Beamten in Paris, von denen man weiß, daß sie weit mehr als die übrige Bevölkerung an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, viel seltener photographieren als die Bewohner einer Kleinstadt wie Lille. Auch photographieren die Söhne von höheren Angestellten und Beamten zwar in ihrer Jugend häufiger als die von mittleren und kleinen Angestellten, als Erwachsene jedoch sehr viel seltener als diese.78 In der Gruppe der Sprach- und Literaturstudenten ist bei den Söhnen der mittleren Angestellten der Anteil der Photographen konstant höher als bei den Söhnen der leitenden Angestellten – das genaue Gegenteil gilt im Hinblick auf die besonders bevorzugten kulturellen Praktiken (mit Ausnahme des Besuchs von Filmklubs).79 Ähnliche Konkurrenzerscheinungen lassen sich in anderen Bereichen feststellen: Wenn trotz unterschiedlicher Einkommen die leitenden Angestellten und Beamten kaum mehr Fernsehgeräte besitzen (35,8%) als die mittleren Angestellten und Beamten (31,5%), wenn der Besitz eines Plattenspielers fast regelmäßig den Besitz eines Fernsehgeräts ausschließt und umgekehrt, wenn die leitenden Angestellten ausdrücklich betonen, daß sie von ihrem Fernsehapparat einen selektiven Gebrauch machen80, so zweifellos darum, weil die sozial hochgeschätzten Praktiken die weniger geachteten relativieren, vielleicht aber auch, weil die Angehörigen der Oberschicht ihre Distanz zu Zerstreuungen kenntlich machen wollen, die allein schon durch ihre weite Verbreitung mit dem Verdacht des Vulgären behaftet sind.81
Kann man sich letztlich damit begnügen, auf den kulturellen und künstlerischen Status der Photographie zurückzugreifen, um die Zwiespältigkeit der von ihr hervorgerufenen Haltungen zu begründen? Ein umfassendes Verständnis der Verhaltensweisen setzt das Studium der Ideologien voraus, die gegenüber falschen Systematisierungen und systematischen Deformierungen die gelebte Logik des Verhaltens formulieren und daher eine der entscheidenden Vermittlungen zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven bilden. Ein Vergleich der Praxis mit den Erklärungen über die Zwecke, die ihr explizit zugeschrieben werden, ermöglicht es, zugleich mit der Erfahrung der legitimen Regel auch der Logik habhaft zu werden, nach der diese sich in Handlungsbegründungen oder -rechtfertigungen übersetzt, d.h. in allgemeine Urteile über die photographische Praxis und den Wert der Photographie ebenso wie in empirische Fragestellungen zur eigenen Praxis oder der der anderen. Aufgefordert, ihre Meinung über zwei in ihrer Modalität höchst unterschiedliche Typen von Urteilen abzugeben, nämlich einerseits abstrakte und allgemeine Behauptungen über den ästhetischen Wert der Photographie, die, wie die Thematiken der Dissertationen, nicht der realen Praxis und den sie inspirierenden Absichten nachspüren, sondern die dazu verführen, eine ästhetische Disposition oder eine Disposition zur Ästhetik aufzudecken82, und andererseits Behauptungen über die allgemeine Praxis, die, als der Alltagssprache entlehnte Klischees, die gemeinsame Erfahrung formulieren, indem sie sie karikieren83, erweisen sich die Angehörigen der Oberschicht eher geneigt als die übrigen, die Photographie mit einem ästhetischen Wert auszustatten, und gleichzeitig weniger bereit, ihr als praktischer Tätigkeit Bedeutung zuzuerkennen.
Die Widersprüche in den Aussagen der Befragten sind mehr als bloß ein ideologisches Epiphänomen. Obgleich sie sowohl über die materiellen Voraussetzungen einer Praxis, die an ausgesprochen ästhetischen Zielen orientiert ist, d.h. über die entsprechenden ökonomischen Mittel, als auch über die künstlerische Bildung und die Anlässe für eine Praxis verfügen, die (hauptsächlich aufgrund des Tourismus) ein breites Spektrum von Gegenständen einschließt, messen die höheren Angestellten den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie eine ähnliche Bedeutung bei wie die Angehörigen der Unterschicht. Als Gegenstand zahlreicher Stereotypen impliziert die Beschäftigung mit der Photographie zweifellos mehr als jede andere Aktivität (vielleicht mit Ausnahme des Tourismus) ein Bewußtsein des objektiven Bildes dieser Praxis. Und jeder Amateur bezieht sich objektiv, in seiner eigenen Praxis, auf das Bild, das er von der Praxis der anderen hat, sowie auf das Bild, das die anderen von seiner Praxis haben. Liegt es nicht daran, daß sie die Photographie als vulgär wahrnehmen, wenn die Angehörigen der Oberschicht es ablehnen, in ihr etwas zu sehen, was Anstrengung und leidenschaftliche Hingabe verlohnte? »Mein Mann macht keine Photos. Er weiß, was er sich schuldig ist«, meinte die Frau eines höheren Angestellten, der seine Einstellung so begründete:
»Ich möchte keine Photos machen, weil alle Welt mehr als genug davon macht. Die Leute sehen nicht mehr, sondern denken nur noch ans Photographieren. Das ist absurd ...«
Wer in solchen Auskünften lediglich Rationalisierungen erblicken wollte, die die Wirklichkeit eher verdecken als öffnen, der fiele einem methodologischen Irrtum zum Opfer. Tatsächlich gibt es eine regelrechte spontane Soziologie, die aus satirischen Anekdoten und kritischen Halbreflexionen über die Lächerlichkeit bestimmter Photoenthusiasten besteht.84 Die Gemeinplätze der Konversation werden durch die Karikaturen in den Illustrierten, die komischen Geschichten in Chansons und bestimmten gutverkäuflichen Büchern transportiert und verstärkt, die die Sitten und Gebräuche der Zeitgenossen zu schildern und zu analysieren vorgeben. Wie anders ließe sich der Erfolg der Bücher eines Pierre Daninos erklären? Sie bestätigen diejenigen, die sie lesen, in der Gewißheit, daß sie die richtige Lebensart