Eine illegitime Kunst. Pierre BourdieuЧитать онлайн книгу.
haben, man braucht Wandschirme und spezielle Lampen und muß lange belichten.«
Kurz, eine andere Praxis hätte eine andere Ausrüstung zur Bedingung, aber dies setzte wiederum eine andere Einstellung gegenüber der Photographie, also andere Lebensverhältnisse voraus:
»Nein, mit den Photos, die ich mache, bin ich nicht zufrieden, mit diesem Apparat werde ich wohl kaum bessere machen können; ich brauchte eine bessere Kamera. [...] Man muß eben in der Lage sein, einen ganzen Film zu opfern, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Aber ich hätte gern, daß meine Photos gleich beim ersten Mal gut werden, damit nicht unnütz Geld ausgegeben wird.«
Aus diesem Grund, dem Gefühl, daß eine anspruchsvolle Praxis unmöglich und verboten ist, verbietet man sich selbst, daran Geschmack zu finden, und versagt es sich, sie zu schätzen:
»Wer Innenaufnahmen machen will, muß die Photographie lieben; wenn ich welche machen wollte, oder auch Großaufnahmen, würde ich sie gern selbst entwickeln. Dazu habe ich weder die Zeit noch die Möglichkeit, noch die Mittel.«
Diese Logik offenbart die ganze Bedeutung des Verhältnisses zum technischen Objekt, und das Verhältnis zum Photoapparat ist davon bloß ein Sonderfall. Wenn Arbeiter, die ein besonderes Interesse an der Photographie haben, häufig mit einem gewissen Stolz auf die Einfachheit ihrer Ausrüstung hinweisen und als verständige Wahl ausgeben, was nicht zuletzt eine Auswirkung ökonomischer Zwänge ist, dann deshalb, weil sie in der Verfeinerung technischer Manipulationen eine Chance sehen, ihr Interesse für das ausgereifte (und deshalb teuerste) technische Objekt mit ihrem Vorsatz in Übereinstimmung zu bringen, den Kauf eines solchen Objektes zu meiden, das für sie ohnehin unerschwinglich ist:
»Mit den Photoapparaten ist es wie mit allem anderen auch, die teuersten sind nicht unbedingt die besten.« »Eine gute Verarbeitung ist wichtiger als eine komplizierte Mechanik.« »Hören Sie, ich kenne alle Fabrikate ziemlich gut, also, da gibt es welche, die nach nichts aussehen, mit denen kann man aber mehr anfangen als mit anderen, wenn man sich wirklich auskennt. Wer nicht gerade sehr auf Draht ist, der braucht meinetwegen viel Technik. Nehmen Sie nur mal die ›automatischen‹, ein guter Photograph wird damit nie das machen können, was mit einer ›manuellen‹ möglich ist. Außerdem will er das wahrscheinlich gar nicht. Das ist wie mit den Autos.«
Die »Bastelei« widersteht der Verführung des technischen Objektes im gleichen Maße, wie sie ihr erliegt. Im Unterschied zu der Vorliebe für »Spielereien« oder sogenannte »gadgets«, die die Manipulationen durch die Multiplikation der zu manipulierenden Objekte vervielfacht, hilft sich die Selbstbeschränkung durch die Geschicklichkeit, einfallsreiche Lösungen zu erfinden, die es erlauben, dasselbe Ergebnis mit sparsamsten Mitteln zu erzielen. Die Raffinesse der technischen Gegenstände im Namen der Raffinesse des Technikers vorgeblich geringzuschätzen – das ist eine höchst realistische Weise, die Unerreichbarkeit der Objekte anzuerkennen, ohne auf Perfektion zu verzichten.
Als Fiktion einer Erklärung und Erklärung von Fiktionen läßt somit die Motivationspsychologie die Frage offen, wie es kommt, daß die Photographie so weit verbreitet ist, obwohl sie kein primäres, d.h. »natürliches«, und erst recht kein sekundäres Bedürfnis befriedigt, das durch die Erziehung hervorgebracht und genährt worden wäre, wie etwa das Interesse an Museen oder Konzerten.
Die Photographie als Ausdruck und Mittel der Integration
Um die Unzulänglichkeit einer rein psychologischen Erklärung der photographischen Praxis und deren Verbreitung endgültig zu bekräftigen, bedarf es des Nachweises, daß eine soziologische Erklärung diese Praxis vollständig zu begründen vermag, und zwar nicht allein diese selbst, sondern obendrein ihre Instrumente, ihre bevorzugten Gegenstände, ihre Rhythmen, ihre Anlässe, ihre implizite Ästhetik, ja selbst die Erfahrung, die die Subjekte mit ihr machen, die Bedeutungen, die sie ihr verleihen, und die psychischen Gratifikationen, die sie aus ihr ziehen. Was dem Betrachter sogleich auffällt, sind die zahlreichen Regelmäßigkeiten, nach denen sich die allgemeine Praxis organisiert7: Nur wenige andere Tätigkeiten sind gleich stereotyp und der Anarchie individueller Absichten weniger überlassen. Mehr als zwei Drittel der Photoamateure sind Saisonkonformisten, die ihre Aufnahmen bei Familienfesten oder Freundestreffen oder in den Sommerferien machen.8 Wenn man bedenkt, daß eine sehr enge Korrelation besteht zwischen dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« und dem Besitz eines Photoapparats, und daß dieser oft das Eigentum der ganzen Familie ist, dann wird klar, daß die photographische Praxis meist einzig ihrer Funktion für die Familie wegen lebendig bleibt, genauer: durch die Funktion, die ihr die Familie zuweist, nämlich die großen Augenblicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern, kurz, die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.9 In dem Maße, wie die Familienphotographie als Ritus des Hauskultes dient – wobei die Familie Subjekt und Objekt zugleich ist –, wie sie das Gefühl des Festes, das die Familie sich gibt, zum Ausdruck bringt und dadurch verstärkt, werden das Bedürfnis nach Photographien und das Bedürfnis zu photographieren (die Verinnerlichung der sozialen Rolle dieser Praxis) um so lebhafter empfunden, je integrierter die Gruppe und je höher die Integrationskraft des Augenblicks ist.10 Es ist also kein Zufall, wenn die soziale Bedeutung und die Funktion der Photographie nirgendwo deutlicher zutage treten als in einer ländlichen Gemeinde, die stark integriert und nachhaltig ihren bäuerlichen Traditionen verhaftet ist.11 Daß das photographische Bildnis, diese ungewöhnliche Erfindung, die Verwirrung oder Unruhe hätte stiften können, sich rasch einbürgert und durchsetzt (zwischen 1905 und 1914), hat seinen Grund darin, daß es alte, ihm vorausliegende Funktionen wahrnimmt, nämlich die hohen Zeitpunkte des kollektiven Lebens einzufangen und auf Dauerhaftigkeit zu stellen. Die Hochzeitsphotographie wurde deshalb so schnell und allgemein akzeptiert, weil sie den Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen Existenzbedingungen offen einbekannte – die Verschwendung als Verhaltensbestandteil bei Festlichkeiten, der Erwerb des Gruppenbildes, der demonstrative Aufwand, dem sich niemand entziehen konnte, ohne gegen den Ehrenkodex zu verstoßen, all dies wird als obligatorisch empfunden, als Element einer Huldigung, die den Jungverheirateten erwiesen wird.
»Das Gruppenphoto ist sich jeder schuldig; wer keines abnehmen würde, gälte als geizig. Es wäre ein Affront gegenüber jenen, die zum Fest eingeladen haben. Es wäre rücksichtslos. Am Tisch ist man unter aller Augen, da kann keiner nein sagen.«
Als Objekt geregelter Tauschhandlungen tritt die Photographie in den Kreislauf der Geschenke und Gegengeschenke ein, deren Anlaß die Hochzeit ist. Dies bringt es mit sich, daß es keine Hochzeit ohne den Photographen gibt. Die Zeremonie der Gruppenphotographie bleibt selbst dann in Geltung, wenn bloß Photoamateure zugegen sind; sie können für den Berufsphotographen einspringen, für den Priester, dessen Anwesenheit die Feierlichkeit des Rituals sanktioniert, doch sie können ihn niemals ersetzen.
»Manchmal sitzen unter den geladenen Gästen auch Photoamateure. Aber man läßt trotzdem Photographen aus Pau kommen; die Amateure nehmen das Paar auf, während es gerade auf der Kirche kommt. [...] Solche Photos gibt es, wenn Amateure dabei waren, die vorher rausgegangen sind, die wissen, daß man das so macht. Sie machen sogar in der Kirche Aufnahmen, wenn am Altar die Ringe getauscht werden.«
Und noch ein Hinweis auf den rituellen Charakter der Photographie: »Der Photograph macht niemals Bilder vom Essen oder vom anschließenden Tanz.«12 Überdies können die Amateurphotographien gegenüber den »offiziellen« Bildern nicht bestehen, die man im Atelier machen läßt, um sie Verwandten und Freunden zu schicken: »Alle lassen sich dort im Atelier aufnehmen, sogar die ganz Armen.«
Geht man mit Durkheim davon aus, daß die Funktion von Festen darin besteht, die Gruppe zu neuem Leben zu erwecken, sie neu zu erschaffen, so versteht man, warum die Photographie hier die Rolle spielt, die sie spielt: Sie ist ein Mittel, die großen Augenblicke des gesellschaftlichen Lebens, in denen die Gruppe ihre Einheit aufs neue bestätigt, zu feiern. Im Falle der Hochzeit gehört das Bild, das die versammelte Gruppe, genauer: die Versammlung zweier Gruppen, für die Ewigkeit festhält, notwendig zu einem Ritual, das den Bund zweier Gruppen, der auf dem Umweg über den Bund zweier Individuen geschlossen wird, weiht, d.h. sanktioniert