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Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess. Marie-Luisa FrickЧитать онлайн книгу.

Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess - Marie-Luisa Frick


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      Marie-Luisa Frick

      Mutig denken

      Aufklärung als offener Prozess

      Reclam

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      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      © Marie-Luisa Frick 2020. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961764-0

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019683-0

       www.reclam.de

      Vorbemerkung

      Dies ist ein Buch, das ich schon lange schreiben wollte – und das ich nun in einer Forschungsauszeit schreiben konnte. Die Ideen und Textquellen sammelte ich in Bibliotheken, auf Strandspaziergängen, in Gesprächen und auf Roadtrips. Es war ein anderes Leben, ja eine andere Welt. Werden wir jemals zurückkehren in jenes Zeitalter vor dem Zusammenbruch globaler Mobilität und relativen Wohlstands in weiten Teilen dieser Welt? In unbefangene Begegnungen in öffentlichen Räumen? Werden wir wissen, in welchem Ausmaß wir es im Zusammenhang mit Covid-19 mit einer Naturkatastrophe oder (auch) einer »Kulturkatastrophe« zu tun hatten? Wie lange wird diese Krise währen?

      Niemand kann das heute sagen. Die Beschäftigung mit dem Denken der Aufklärung kann in diesem Zusammenhang eine Anregung sein, viele der brennendsten Probleme wenigstens besser verstehen zu versuchen. Sie kann auch trösten, indem sie uns verbindet mit Menschen, die in ihrer Zeit mit unvorstellbaren Schrecken, Umwälzungen und Erneuerungen zu Rande kommen mussten. Die sich nicht teilnahmslos dem Schicksal überantworten wollten, sondern sich als zum Handeln und Selbstdenken Verurteilte verstanden haben. Die Aufklärung mag für viele ein fernes Land sein. Vielleicht kann dieses Buch sie überzeugen: Die Aufklärung liegt um die Ecke. Sie ist kein Museum, sondern ein weites und einladendes Feld, das es mutig zu beackern gilt. Jäten wir es, düngen wir es! Und finden wir Ruhe im Schatten seiner mächtigen Bäume.

      I. Einführung: Was war Aufklärung?

      Als Epochenbegriff bezeichnet Aufklärung einen bestimmten Abschnitt der (meist westlichen) Kulturgeschichte, der sich durch Änderungen der Selbst- und Weltbilder des (meist westlichen) Menschen und aus ihnen hervorgehende soziale Veränderungen auszeichnet. Diese Veränderungen verstehen wir gerne als entscheidende Fortschritte – weg vom Dunkel, näher zum Licht. Schwieriger wird es dann festzulegen, wann ein solcher Zeitabschnitt beginnt und gegebenenfalls, wann er endet, was als entscheidende soziale Transformationen gelten können, wie diese zu bewerten sind – segensreich, ambivalent oder nachteilig –, welche Faktoren Aufklärung befördern und ob es sich um zufällige bzw. kontingente oder geschichtlich notwendige Prozesse handelt. Die Beantwortung dieser Fragen in Summe stellt wiederum die Weichen dafür, mögliche weitere Epochen der Aufklärung in der Weltgeschichte auszumachen.

      Sprechen wir von »der Aufklärung«, meinen wir also eine Epoche des neuzeitlichen Europas und Nordamerikas (seltener Russlands oder auch Lateinamerikas), die häufig als »Zeitalter der Vernunft« bezeichnet wird. Manche identifizieren dieses Zeitalter mit dem ›langen‹ 18. Jahrhundert, andere wiederum legen seinen Beginn bereits mit der Renaissance fest, die an antike (»heidnische«) Denkströmungen anknüpfte und diese weiterentwickelte. Die meisten halten diese Epoche für vergangen, manche aber denken, sie dauere noch immer an. In ihr, so erzählen ihre Verehrer*innen, habe sich das rationale Denken Bahn gebrochen, sei der Mensch befreit und die Religion zurückgedrängt, seien die Fundamente von Demokratie und Menschenrechten gelegt worden. Kritiker*innen der Aufklärung wenden ein: Im Zeitalter der Aufklärung wurde rationales Denken überschätzt oder zu gefährlichen Spitzen getrieben. So manche Befreiung habe auch die Bahn zu neuer Unterdrückung geebnet, alte Religionen wurden durch neue ersetzt und Rechte nur unter Ausschluss weiter Teile der (Welt-)Bevölkerung gewährt. Radikale Kritiker*innen der Aufklärung erblicken in ihr gar einen üblen (Selbst-)Zerstörungsprozess der Moderne.1

      Die Geschichte selbst, als Ablauf von Ereignissen, kennt keine Epochen. Diese sind ihr künstlich übergestülpte Einteilungen des Menschen, mit anderen Worten: Konstruktionen. Sie legen nahe, dass bestimmte Ereignisse gleichförmig verlaufen seien (Aufklärung als »Projekt«) und dabei klare Grenzziehungen bzw. klare Demarkationen errichtet wurden (Moderne vs. Mittelalter).

      Auch das Zeitalter der Aufklärung stellt eine solche Konstruktion dar. Das bedeutet jedoch nicht, dass es falsch wäre, von solch einem Zeitalter zu sprechen oder gar davon auszugehen, dass es ein solches Zeitalter nie gegeben hätte. Vielmehr verweist diese Feststellung auf die Deutungs- und Auswahlkomponente jeder Theorie der Geschichte. Die entscheidende Frage ist: Was nehmen wir genau in den Blick, wenn wir von der Aufklärung sprechen? Und was blenden wir aus?

      Deutung des Undeutlichen

      Betrachten wir ein paar gängige Charakterisierungen dieses Zeitalters der Aufklärung: Wer Aufklärung etwa als Zeitalter der Vernunft fasst, sieht sich schnell mit der Frage konfrontiert, was von jenen Strömungen dieser Zeit zu halten ist, die Gefühle und Triebe bzw. Leidenschaften über oder zumindest auf dieselbe Höhe der Vernunft stellen. Gerade in der Ethik, aber auch in der politischen Philosophie der frühen Neuzeit begegnen uns Vorstellungen, die das Bild einer kühlen, rationalen Aufklärung aber gerade unterlaufen. So sprach der englische Philosoph und Aufklärer David Hume der Vernunft ab, uns zu moralischen Handlungen motivieren zu können, und betonte stattdessen die entscheidende Rolle von Leidenschaften (passions). Auch Thomas Hobbes’ einflussreiche Staatstheorie rechnet nicht allein mit dem Menschen als Vernunftwesen, sondern stellt die Todesangst an den Beginn einer mechanistischen Anthropologie. Kurz: Vernunft und Gefühl, beide sind sie Stimmungen der Aufklärung.

      Dass die Aufklärung von antireligiösen Einstellungen getragen war, ist eine weitere unscharfe Einschätzung. Ohne auf regionale Kontexte einzugehen und die konfessionelle Pluralisierung der frühen Neuzeit auszuleuchten, entgeht allzu leicht, dass zwar unterschiedliche Formen von Religion aus jeweils unterschiedlichen Richtungen kritisiert wurden, Vernunft und religiöser Glaube aber lediglich von einer verschwindend kleinen Minderheit als miteinander grundsätzlich unvereinbar angesehen wurden. Zwar hat die Aufklärungsphilosophie mit ihrer insgesamt durchdringenden Tendenz, die irdische Existenz des Menschen aufzuwerten, zu einer »Expansion der Säkularität« geführt,2 wie dies die Wissenschaftshistorikerin Margaret Jacob nennt. Doch versuchte ›die‹ Aufklärung gar nicht, Vernunft an die Stelle von Religion zu setzen. Vielmehr zeichnet sie das Ringen um die Frage aus, was vernünftigen Glauben ausmacht.

      Die bedeutende Rolle religiöser Ansätze und Narrative für die Praxis der Aufklärung zeigt auch ein Blick auf wichtige soziale und politische Bewegungen der frühen Neuzeit: Die englischen »Levellers« etwa haben die Vision einer universalen (auch sozialen) Gleichheit der Menschen mit radikalchristlichen Ideen verbunden. Und die Bemühungen zur Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels wurden maßgeblich von der Religious Society of Friends (den »Quäkern«) und den Methodisten getragen. Religiöse Überzeugungen sind also ebenso Teil der Aufklärung wie deutlich ausgesprochene oder verschleierte Atheismen und beißender Spott über religiöse Lebensformen.

      Oft wird die Aufklärung auch als die Blüte des Universalismus beschrieben: Allgemeingültige Prinzipien und Regeln wurden aufgestellt, alle Menschen in den Blick genommen, oder kritischer formuliert: Westliche Ideen wurden der gesamten Menschheit übergestülpt. Auch hier lässt uns ein differenzierter Blick etwas ratlos zurück. Wie konnte ein Werk, das die Gültigkeit von Gesetzen auf klimatische Bedingungen hin


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