Unter den Narben (Darwin's Failure 2). Madeleine PuljicЧитать онлайн книгу.
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Madeleine Puljic
UNTER DEN NARBEN
Darwin’s Failure Teil 2
Roman
Für die, die nach uns kommen.
Wir wussten, was wir tun.
Prolog
Leera
Das Mädchen kauerte in der Dunkelheit der Nacht hinter einem Müllberg und horchte auf den Lärm der Aufstände. Das Klirren von berstendem Glas, die dumpfen Schläge von Explosionen. Das Schaben und Kreischen von Metall, das verbogen und zerrissen wurde. Und natürlich die Schreie. Furcht, Wut, Schmerz. Leera duckte sich tiefer.
Ihr Versteck lag etwa einen halben Block vom Gebiet der Überfälle entfernt – das musste ausreichen, um nicht entdeckt zu werden. Je näher sie an das Geschehen herankam, desto größer war ihre Chance, rechtzeitig zuzuschlagen, wenn es an der Zeit war. Sie musste schnell sein, sie durfte nicht zögern.
Die Schreie wurden lauter, aufgebrachter, und ein dumpfes Krachen ließ den Boden unter ihren Füßen beben. Der erste Brand brach aus. Über ihren Müllhaufen hinweg sah Leera das düstere Schimmern der Flammen, das sich deutlich von dem kalten Licht der Reklamen und Bildschirme auf den Häuserfronten abhob. Hitze und Asche wehten zu ihr herüber. Etwas war dort passiert.
Leera musste sehen, was es war. Vorsichtig tastete sie sich in Richtung Straße voran und lugte an dem Unrat vorbei.
Dort! Eines der Fenster war zerbrochen. Dahinter tobte ein Feuer, spuckte lodernde Vorhänge ins Freie. Enttäuscht wich Leera zurück. Die Puristen waren nicht in den Lebensmittelmarkt eingedrungen, bloß in das Wohnhaus daneben. Selbst im besten Fall versprach das wenig Beute, und inzwischen reichten die Flammen bis in den zweiten Stock hinauf. Doch niemand kam aus dem Haus gerannt. Niemand schrie um Hilfe. Das Gebäude stand leer, wie so viele in Noryak. Nichts zu holen.
Ein Scheppern lenkte ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Supermarkt, an dem sich eine weitere Gruppe zu schaffen machte. Sie hatten das Schutzgitter abgerissen und es achtlos zur Seite geworfen. Mit aller Kraft droschen sie jetzt auf die Scheiben ein.
Mit jedem Schlag schwand Leeras Hoffnung weiter. Es tat sich rein gar nichts. Die breiten Fensterfronten bestanden offenbar aus bruchsicherem Glas. Trotzdem schlugen die Plünderer weiter in unbändiger Wut darauf ein.
Diese Gewaltbereitschaft der Reinen hatte alle in Panik versetzt. Auch Leera hatte anfangs das Weite gesucht, sobald sie die verhüllten Gestalten nur aus der Ferne erspäht hatte. Die Nachtstunden waren gefährlich geworden, besonders für jemanden wie sie. Jemanden ohne Heim, ohne Familie. Noch ein Kind. Wer die verfallenen und vergessenen Bereiche der Stadt sein Zuhause nannte, schlief im Schutz des Tages und blieb wachsam, solange die Finsternis Noryak regierte.
Die Nacht half, wenn es darum ging, die Abfälle der Arbeiter nach Essbarem oder brauchbaren Dingen zu durchwühlen. Doch die Gestalten, auf die man zu dieser Zeit stieß, begnügten sich selten damit, ihr das Essen unter der Nase wegzuschnappen. Leera war oft genug verprügelt worden, um das zu wissen – und damit war sie noch glimpflich davongekommen. Andere verschwanden einfach, selbst bei Tag.
Sie hatte gelernt, vorsichtig zu sein und Gelegenheiten zu nutzen. Es war der einzige Weg, auf der Straße zu überleben. Und sie sah die Möglichkeiten, die Puristen für jemanden wie sie eröffneten: Nacht für Nacht drangen die Rebellen in Geschäfte aller Art ein, schafften es aber niemals, alles wegzuschleppen. Immer blieb etwas zurück, das Leera erbeuten konnte.
Leider war sie nicht die Einzige, die das erkannt hatte. Selbst Arbeiter fanden sich mittlerweile ein, sobald sie die Feuer sahen – die liebste Waffe der Reinen.
Leera versuchte, in die Gassen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu spähen. Ihre Bemühungen waren sinnlos, das wusste sie. Es war zu finster. So spärlich die Beleuchtung der Hauptstraße auch war, sie machte es unmöglich, Einzelheiten in der Dunkelheit dahinter zu erkennen. Und die anderen waren nicht dumm. Sie lauerten ebenso im Verborgenen wie sie. Trotzdem wusste Leera, dass sie da waren. Nacht für Nacht wurden es mehr. Die meisten waren größer und stärker als Leera. Was bedeutete, dass sie flink sein musste. Nur wenn sie schnell genug hinein-und wieder hinauskam, würde sie ihren Hunger mit etwas anderem als Abfall stillen können.
Es sah jedoch äußerst schlecht aus für sie alle. Das Glas hatte noch nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe der Plünderer. Ein wütender Schrei schallte durch die Nacht, weitere Feuer flammten auf.
»Verschwindet, ihr verdammten Parasiten!«
Mehrere Gestalten stürmten die Straße herab. Zehn. Zwanzig. Es wurden immer mehr. Andere Stimmen fielen in die Rufe des ersten Mannes ein.
»Mörder!«
»Abschaum!«
»Euretwegen muss meine Familie hungern!«
Die Neuankömmlinge stürmten genau auf die Puristen zu, die augenblicklich von ihrem Einbruchsversuch abließen und zu den Waffen griffen.
Leera erkannte noch die abgewetzten Overalls der Arbeiterschicht der Angreifer, dann wandte sie sich ab. Sie hatte in ihrem Leben bereits genug Blutvergießen gesehen. Die Schreie und Schüsse verrieten ihr alles, was sie wissen musste. Die Arbeiter waren eindeutig in der Überzahl, und sie waren nicht allein. Mindestens fünf in ihrer Gruppe hatten die schwarzen Uniformen der Exekutive getragen. Wer es in diese Ränge schaffte, kannte kein Erbarmen – nicht bei Bettlern, und bestimmt noch weniger, wenn es um Aufständische und Puristen ging.
Hier würde sie nichts finden.
Gegenüber löste sich ein Schatten von der Wand, der offensichtlich zu dem gleichen Schluss gekommen war. Seufzend machte Leera sich auf den Weg zurück zu ihrem Lager. Sie schlüpfte geschickt durch engste Durchgänge, hielt sich dabei immer möglichst nahe an den Häuserfronten. Wo es unvermeidlich blieb, überquerte sie Plätze und Straßen leise und zügig.
Die Gassen waren stockdunkel. Nahezu blind schlich sie voran – und stieß mit dem Fuß gegen eine leere Dose. Das Scheppern hallte von den hohen Wänden wider, so laut, dass es ihr in den Ohren weh tat. Leera erstarrte, wagte nicht einmal, zu atmen.
Das Echo verklang, die Stille kehrte zurück. Nichts geschah. Leera atmete erleichtert auf. Niemand hatte sie bemerkt. Sie setzte zum nächsten Schritt an, da geriet der Müllhaufen, zu dem die Dose gehört hatte, ins Rutschen. Direkt auf sie zu.
Sie wusste nicht, ob es bloß ihr eigenes Ungeschick gewesen war oder ob ihn jemand umgestoßen hatte, und sie hatte auch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Die Panik in ihr ließ nur einen Gedanken zu: Sie musste weg hier, bevor man sie doch noch erwischte. Ohne weiter auf ihre Deckung zu achten, rannte sie los, sprang über eine Ansammlung von Kisten hinweg und lief, so schnell sie konnte. Sie ignorierte das Brennen in ihrer Lunge, die Schmerzen in den Beinen. Wollte nur noch weg. In Sicherheit, in ihren Unterschlupf …
Als sie endlich in den vertrauten Hinterhof gelangte, der zu ihrem Versteck führte, war das Keuchen in ihrer Brust in ein pfeifendes Rasseln übergegangen. Erschöpft und ein wenig schwindelig lehnte sie sich an die bröckelige Hauswand. In regelmäßigen Abständen war sie gezwungen, ihren Schlafplatz zu wechseln. Diesen hier bewohnte sie bereits seit ein paar Monaten, und bisher hatte noch niemand sie hier gefunden. Allmählich vermittelte ihr der Ort ein Gefühl des Nachhausekommens.
Das Keuchen in ihrer Brust wurde zu einem feuchten Rasseln. Leera hustete einen grünlichen Schleimbrocken heraus und spuckte ihn auf den Boden. Sollten ihn die Ratten fressen. Den zähen Biestern konnte selbst die kontrollsüchtige Oberschicht nichts anhaben. Der Schleim bereitete ihr keine Sorgen – sie kannte es nicht anders. Aber wenn sie eine Wahl gehabt hätte, wäre sie lieber als Ratte geboren worden.
Sie wischte sich übers Kinn, schlüpfte durch ein zerbrochenes Fenster in den Schutz ihres Verstecks und lauschte. Nichts. Selbst das Ungeziefer mied die Ruine heute. Leera atmete auf. Endlich konnte sie sich ausruhen.
In diesem Moment legte sich ihr eine vernarbte Hand auf Mund und Nase – und drückte zu.
1.