Unter den Narben (Darwin's Failure 2). Madeleine PuljicЧитать онлайн книгу.
zeigten. Das war kein geordnetes Einschreiten der Exekutive, keine Spur einer Überlegenheit der optimierten Bevölkerungsschicht. Das war brutales, sinnloses Gemetzel, weiter nichts.
Ramin wandte sich von dem Bild ab, das auf die gesamte Fensterfront des Besprechungssaals projiziert war. Er hatte genug gesehen. Im Gegensatz zu den anderen Regierungsmitgliedern kannte er das Elend der Straße aus eigener Erfahrung. Ganz gleich, wie lange seine Jahre als Priester zurücklagen und wie gut er sie vor den anderen verbarg – vergessen konnte er sie nicht.
Er musterte die unbeteiligten Gesichter seiner Kollegen. Es war nicht so, als wären ihnen die Vorgänge in der Stadt völlig gleichgültig – jede weitere Stunde, die dieser Aufstand andauerte, bedeutete herbe finanzielle Verluste für die Oberschicht. Sie empfanden nur einfach nichts, weil es für sie nichts zu empfinden gab. Emotionen waren ein Störfaktor, und den hatte man entfernt.
Die Puristen sind fanatische Spinner, dachte er grimmig, aber sie haben recht. Diese Leute hier sind keine Menschen mehr. Nur funktionierende Organismen, die im Reagenzglas zu größtmöglicher Effizienz zusammengemischt wurden. Sie besitzen kein Herz. Keine Seele.
»Das ist erbärmlich.« Der Präsident tippte mit seinen Wurstfingern auf die Tischplatte. Der Bildschirm verschwand und gab den Blick frei auf die dicke Smogschicht, unter der Noryak begraben lag.
Ramin wollte lieber nicht wissen, was dieser Mann seinem Körper antun musste, um derart übergewichtig zu sein. Ein gesteigertes Maß an körperlicher Fitness war jedem Optimierten gegeben, einem so hoch Optimierten wie dem Präsidenten erst recht. Aber Sepion sah es als seine Art, seine genetische Überlegenheit zu demonstrieren: Er hatte es nicht nötig, körperlich fit zu sein. Während halb Noryak hungerte, mästete sich der Präsident zum unappetitlichen Fettklops. Ramin bezweifelte, dass er den anderen Ministern dadurch Respekt einflößte. In ihm weckte es jedenfalls nur Abscheu und Verachtung. Aber die empfand er ohnehin für alle in diesem Raum.
»Jorek!«, wandte Sepion sich an den Mann neben sich. »Ich verlange eine Erklärung für dieses … Debakel.«
»Die Aufstände der Rebellen werden niedergeschlagen, wie du befohlen hast, Präsident«, erwiderte der Kriegsminister ruhig. Zu ruhig für jemanden, der eigentlich gerade um seinen Posten fürchten musste.
Der Präsident sah das wohl genauso. »Deine Befehle lauteten, Arbeiter nur zur Verstärkung einzusetzen, unter der Aufsicht der Exekutive. Sah das für dich so aus, als hätten deine Leute noch die Oberhand über diesen Pöbel?«
Ramin glaubte, leise Verblüffung in den Zügen des Kriegsministers zu sehen. »Die Arbeiter schließen sich unseren Truppen von selbst an«, erklärte Jorek. »Ohne Bezahlung. Und wir können ihre Stärke nutzen …«
»Es sind Natürliche!«, unterbrach ihn der Präsident. »Wir können nicht zulassen, dass unsere Sicherheit von einem Haufen Missgeburten abhängt! Regle das gefälligst. Und was habe ich über Gefangene gesagt?«
»Wir haben Gefangene unter den Puristen gemacht, wie du befohlen hast. Aber sie wollen nicht reden.«
»Dann bring sie gefälligst zum Reden!« Nun hatte der Präsident die völlige Aufmerksamkeit der Versammlung. »Sie verstümmeln sich selbst, hast du etwa Skrupel, es ihnen gleichzutun? Es gibt genug von ihnen da draußen.« Er deutete in Richtung der Fenster, wo die Aufnahmen zu sehen gewesen waren. »Durch solche Aktionen werden wir ihnen jedenfalls nicht beikommen. Ich will wissen, wo sich diese Kreaturen verstecken. Ich will, dass dieser leidige Zustand ein Ende hat, bevor uns noch mehr Investoren abspringen. Verstanden?«
Jorek sah sich um, doch die anderen Minister schwiegen. Niemand wollte Stellung beziehen. Das war Joreks Angelegenheit, nicht ihre. »Ja, Präsident.«
»Gut. Dann wäre wenigstens das geklärt. Eniel, wie sieht es mit dem Wiederaufbau des N4-Centers aus?«
Völlig übergangslos, als würden nicht jede Nacht Hunderte Menschen auf den Straßen sterben und als hätte er nicht soeben das gnadenlose Foltern unzähliger weiterer befohlen, kehrte der Präsident zur Tagesordnung zurück. Es waren nur Zahlen, die Investoren abschreckten. Ein leidiger Zustand.
Je mehr Zeit Ramin in den Reihen der Klone verbrachte, desto mehr begann er, sie zu hassen.
Haron
»Wir sollten die Baustelle zerstören.« Ariats Stimme klang träge, als würde sie ihren Worten nicht die geringste Bedeutung beimessen. Ihr Kopf lag auf seiner Brust, ihre Finger strichen über die verschwitzte Innenseite seines Schenkels hoch und dann ebenso quälend langsam wieder hinab zu seinem Knie.
»Sie ist zu gut bewacht.« Mit seiner rechten Hand – der einzigen Hand, die ihm geblieben war – packte Haron ihren Unterarm und versuchte, sie an die Stelle zu befördern, an der er sie haben wollte. Mit einer geschickten Drehung entwand Ariat sich seinem Griff.
»Und das hält dich ab?«, fragte sie. »Je mehr von ihnen wir erwischen, desto besser!«
Vor ein paar Wochen noch hätte er ihr voll und ganz zugestimmt. Die Vorbereitungen für den Anschlag auf das N4-Center hatten Monate in Anspruch genommen. Sie hatten zu viel riskiert, zu viel investiert, um jetzt tatenlos mit anzusehen, wie die Oberschicht die Ruine des alten Centers einfach durch ein neues ersetzte. Er durfte nicht zulassen, dass die Klonforschung fortgesetzt wurde, als wäre nichts geschehen. Wenn er seine Leute umsonst in einen Bürgerkrieg gestoßen hatte, würden sie bald alles infrage stellen. Sich gegen ihn wenden.
Aber das Risiko allein war nicht der einzige Grund für sein Zögern. Mittlerweile hatte Haron andere Prioritäten. Es genügte, einmal versuchsweise tief Luft zu holen, um sich daran zu erinnern.
Die Sprengung des N4 hatte die Unterstadt von ihrer Hauptluftzufuhr abgeschnitten, weil er die Konsequenzen nicht bis zum Ende durchdacht hatte. Und je mehr Anhänger sie gewannen, desto knapper wurden ihre Vorräte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Hunger Einzug hielt. Zuerst musste er einen Weg finden, das Überleben der Reinen zu sichern, dann erst konnte er neue Aktionen riskieren.
Nicht, dass er diese Sorgen irgendjemandem anvertrauen würde – Ariat am allerwenigsten. Es war auch nicht nötig. Die Baustelle in die Luft zu jagen, entsprach ohnehin nicht seinen Plänen.
»Es sind Arbeiter, die dort oben schuften, Ariat«, erinnerte er sie. »Keine Klone. Willst du etwa unsere eigenen Leute umbringen?«
Ihre Antwort bestand aus einem unwilligen Schnauben. »Wenn es unsere Leute wären, wären sie hier unten! Wenn wir sie in den Straßen niedermachen, quält dich auch nicht dein Gewissen.«
»Weil sie sich uns entgegenstellen! Aber die Menschen auf der Baustelle erledigen nur ihre Arbeit. Sie versuchen, zu überleben.«
Er selbst hatte einmal nichts anderes getan. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, doch das bedeutete nicht, dass er sein Leben an der Oberfläche einfach vergessen konnte.
Ariat stieß ein abfälliges Lachen aus, als wäre der Wunsch nach dem blanken Überleben nicht weiter ernst zu nehmen. Keine wirklichen Probleme, sondern nur eine kleine Unannehmlichkeit.
Ihre Ignoranz war mehr, als Haron hinnehmen konnte. »Was weißt du schon vom Leben dort oben?«, fuhr er sie an. »Du hast keine Vorstellung davon, du hast nie in einer der Fabriken geschuftet. Dort ist es schwer genug, den Tag zu überstehen!«
Mühsam schüttelte er die Erinnerung an sein altes Leben ab. Er konnte den Arbeitern nur helfen, wenn er das System änderte, und dazu musste er sich auf die Zukunft konzentrieren. Er musste voll und ganz Purist sein.
Davon abgesehen waren noch mehr Anhänger so ziemlich das Letzte, was er hier unten gebrauchen konnte. Wovon sollte er sie ernähren? Die Plünderungen brachten zu wenig ein, und er hatte ohnehin immer mehr Mäuler zu stopfen. Er musste eine Lösung finden, und zwar bald. Einen Weg, zu Ende zu bringen, was sie begonnen hatten, bevor es zu spät war.
»Du wirst lasch.« Ihre aufs Neue wandernden Finger machten deutlich, dass sie damit nicht nur seine Führungsmethoden meinte. »Das sollten wir ändern.«
Ariat rutschte tiefer. Ihr Atem streifte