Die Memoiren des Sherlock Holmes. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
kennen würdest, würdest du mir gewiß verzeihen.‹
›Dann erzähl mir alles‹, sagte ich.
›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie aus.
›Solange du mir nicht sagst, wer in diesem Cottage gewohnt hat und wem du die Photographie gegeben hast, kann keinerlei Vertrauen mehr zwischen uns herrschen‹, sagte ich, riß mich von ihr los und ging aus dem Haus. Das war gestern, Mr. Holmes, und seither habe ich sie weder gesehen, noch weiß ich irgend mehr über diese seltsame Geschichte. Es ist das erste Mal, daß ein Schatten zwischen uns gefallen ist, und es hat mich so erschüttert, daß ich mit dem besten Willen nicht weiß, was ich tun soll. Heute morgen kam mir plötzlich der Gedanke, daß Sie der Richtige wären, mir zu raten, und so bin ich jetzt zu Ihnen geeilt und lege mich vorbehaltlos in Ihre Hände. Wenn es irgend etwas gibt, was ich nicht klargemacht habe, so fragen Sie mich doch bitte danach. Doch sagen Sie mir vor allem rasch, was ich tun muß, denn dieses Leid ist mehr, als ich ertragen kann.«
Holmes und ich hatten mit dem größten Interesse dieser außergewöhnlichen Darstellung gelauscht, die in der sprunghaften, zusammenhanglosen Weise eines Menschen vorgetragen worden war, der unter dem Einfluß extremer Gefühlswallungen steht. Mein Gefährte saß nun eine Zeitlang schweigend da, das Kinn auf die Hand gestützt, in Gedanken verloren.
»Sagen Sie«, meinte er schließlich, »könnten Sie beschwören, daß es ein Männergesicht war, was Sie am Fenster sahen?«
»Jedesmal wenn ich es sah, war ich ein Stück weit davon entfernt, so daß ich das unmöglich sagen kann.«
»Sie scheinen davon allerdings unangenehm berührt gewesen zu sein.«
»Es schien von unnatürlicher Farbe zu sein und in seinen Zügen eine seltsame Starrheit zu besitzen. Als ich näherkam, verschwand es mit einem Ruck.«
»Wie lange ist es her, daß Ihre Frau Sie um hundert Pfund gebeten hat?«
»Fast zwei Monate.«
»Haben Sie je eine Photographie ihres ersten Mannes zu Gesicht bekommen?«
»Nein; ganz kurz nach seinem Tode brach in Atlanta ein großer Brand aus, und all ihre Papiere wurden vernichtet.«
»Und doch hatte sie einen Totenschein. Sie sagen, Sie haben ihn gesehen?«
»Ja, sie bekam nach dem Brand eine Kopie.«
»Haben Sie jemals jemanden getroffen, der sie in Amerika kannte?«
»Nein.«
»Hat sie je davon gesprochen, das Land noch einmal zu besuchen?«
»Nein.«
»Oder Briefe von dort bekommen?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Danke. Ich würde die Angelegenheit jetzt gerne ein wenig überdenken. Falls das Cottage für immer verlassen worden ist, wird es vielleicht etwas schwierig für uns; wenn andererseits, was ich für wahrscheinlicher erachte, die Bewohner gestern vor Ihrem Kommen gewarnt wurden und verschwanden, bevor Sie reingekommen sind, dann könnten sie mittlerweile wieder zurück sein, und wir dürften alles ohne weiteres aufklären. Mithin möchte ich Ihnen raten, nach Norbury zurückzukehren und die Fenster des Cottage noch einmal zu überprüfen. Wenn Sie Grund zu der Annahme haben, daß es bewohnt ist, so verschaffen Sie sich nicht gewaltsam Zutritt, sondern schicken meinem Freund und mir ein Telegramm. Wir werden dann binnen einer Stunde bei Ihnen sein und dieser Geschichte sehr rasch auf den Grund gehen.«
»Und wenn es immer noch leer ist?«
»In diesem Fall komme ich morgen zu Ihnen hinaus und bespreche es mit Ihnen. Auf Wiedersehen, und vor allem quälen Sie sich nicht, solange Sie nicht wissen, ob Sie auch wirklich Grund dazu haben.«
»Ich fürchte, das ist eine üble Geschichte, Watson«, sagte mein Gefährte, nachdem er Mr. Grant Munro zur Tür begleitet hatte. »Was halten Sie davon?«
»Es hörte sich häßlich an«, antwortete ich.
»Ja. Da ist Erpressung im Spiel, wenn ich mich nicht sehr irre.«
»Und wer ist der Erpresser?«
»Nun ja, es muß diese Kreatur sein, die das einzige komfortable Zimmer des Hauses bewohnt und ihre Photographie auf dem Kaminsims stehen hat. Auf mein Wort, Watson, dieses leichenfahle Gesicht am Fenster hat etwas überaus Anziehendes, und ich hätte den Fall um alles in der Welt nicht missen mögen.«
»Haben Sie eine Theorie?«
»Ja, eine vorläufige. Aber ich werde überrascht sein, wenn sie sich nicht als richtig erweist. Der erste Gatte dieser Frau befindet sich in jenem Cottage.«
»Warum glauben Sie das?«
»Wie sonst können wir ihre wahnsinnige Angst davor erklären, daß ihr zweiter es betreten könnte? Der Sachverhalt, wie ich ihn sehe, dürfte etwa der folgende sein: Diese Frau war in Amerika verheiratet. Ihr Gatte entwickelte irgendwelche abscheulichen Eigenschaften oder, sagen wir, er zog sich irgendeine grauenvolle Krankheit zu und wurde aussätzig oder schwachsinnig. Sie entfloh schließlich vor ihm, kehrte nach England zurück, änderte ihren Namen und begann, wie sie meinte, ein neues Leben. Sie war drei Jahre verheiratet gewesen und glaubte, ihre Lage sei recht sicher – hatte sie doch ihrem Gatten den Totenschein irgendeines Mannes gezeigt, dessen Namen sie angenommen hatte –, als ihr Aufenthaltsort plötzlich von ihrem ersten Gatten oder, so dürfen wir annehmen, von einer skrupellosen Frau entdeckt wurde, die sich dem Leidenden angeschlossen hatte. Sie schreiben der Frau und drohen, zu kommen und sie bloßzustellen. Sie bittet um hundert Pfund und versucht, sie abzufinden. Sie kommen trotzdem, und als der Gatte der Frau gegenüber beiläufig erwähnt, daß im Cottage Neuankömmlinge wohnen, weiß sie irgendwie, daß es ihre Verfolger sind. Sie wartet, bis ihr Gatte schläft, und eilt dann hinüber, um die beiden zu überreden zu versuchen, sie in Frieden zu lassen. Da sie keinen Erfolg hat, geht sie am nächsten Morgen wieder hin, und ihr Mann begegnet ihr, wie er uns erzählt hat, als sie herauskommt. Sie verspricht ihm, nicht mehr hinzugehen, doch zwei Tage später ist die Hoffnung, jener schrecklichen Nachbarn ledig zu werden, zu stark für sie, und sie macht einen weiteren Versuch, wobei sie die Photographie mitnimmt, die wahrscheinlich von ihr verlangt worden war. Mitten in dieses Gespräch platzt das Mädchen, um zu berichten, daß der Herr nach Hause gekommen ist, worauf die Frau, wohl wissend, daß er geradewegs zum Cottage kommen wird, die Bewohner zur Hintertür hinausscheucht, in jenes Kieferngehölz vermutlich, von dem es hieß, es liege nahebei. Somit findet er das Haus verlassen. Ich wäre allerdings sehr überrascht, wenn dem immer noch so wäre, wenn er es heute abend auskundschaftet. Was halten Sie von meiner Theorie?«
»Es ist alles Vermutung.«
»Aber sie trägt allen Tatsachen Rechnung. Wenn neue Tatsachen auftreten, denen sie nicht Rechnung tragen kann, ist immer noch Zeit, sie zu überdenken. Im Augenblick können wir nichts tun, bis wir neue Nachricht von unserem Freund aus Norbury haben.«
Doch wir mußten nicht sehr lange warten. Sie traf ein, gerade als wir unseren Tee getrunken hatten. »Das Cottage ist noch bewohnt«, lautete sie. »Habe wieder das Gesicht am Fenster gesehen. Ich werde Sie vom Sieben-Uhr-Zug abholen und bis zu Ihrer Ankunft keine Schritte unternehmen.«
Er wartete schon auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und im Licht der Bahnhofslampen konnten wir erkennen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte.
»Sie sind immer noch da, Mr. Holmes«, sagte er, indem er meinem Freund die Hand auf den Ärmel legte. »Ich habe Lichter im Cottage gesehen, als ich hinkam. Wir werden es jetzt ein für allemal klären.«
»Was also ist Ihr Plan?« fragte Holmes, während wir die dunkle, baumbestandene Straße hinuntergingen.
»Ich werde mir gewaltsam Zutritt verschaffen und selbst nachsehen, wer sich in dem Haus befindet. Ich möchte, daß Sie beide als Zeugen anwesend sind.«
»Sie sind unbedingt dazu entschlossen, trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, wenn Sie das Rätsel nicht lösten?«
»Ja,