Kärntner Totenmesse. Roland ZingerleЧитать онлайн книгу.
Kapitel 1
Mittwoch, 19:20 Uhr
Ein Areal wie das Gelände der Klagenfurter Messe so abzuriegeln, dass keine Maus mehr ungesehen hinein-, geschweige heraushuschen kann, ist eine logistische Herausforderung. Dennoch war es innerhalb einer halben Stunde gelungen. Bei Mord fand sogar die Kärntner Gemütlichkeit ein Ende.
Chefinspektorin Sabine Oleschko stieg aus dem Streifenwagen, der sie hierhergebracht hatte, und schritt auf den Haupteingang der Messe zu. Blaulichter durchzuckten die warme Luft der Dämmerung, Polizisten in Uniform besprachen sich mit Teams der Rettung sowie mit Beamten in Schutzanzügen, mit Helmen und Maschinenpistolen. Andere hielten Hunde, die ähnlich angespannt wirkten wie sie selbst, eng an der Leine. Die Bewegungsabläufe waren schnell und routiniert. Die Chefinspektorin nickte, wie als Bestätigung für sich selbst, dass sie zufrieden sein konnte. Einige der Uniformierten, die sie offenbar nicht kannten, wurden auf sie aufmerksam, und ihr selbstbewusstes, zielstrebiges Auftreten machte den Beamten klar, dass sie zum Team gehörte.
Am Messeeingang wartete Gruppeninspektor Roth auf sie, der in den vergangenen Monaten zu ihrer rechten Hand geworden war. „Hallo, Frau Chefinspektor!“ Er salutierte und ging voraus in das Eingangs-Foyer. „Das Gelände ist gesichert, die Leute warten auf Ihre Instruktionen.“
Das mochte sie so an Roth. Nicht nur, dass er fähig war, selbständig zu denken und unaufgefordert Dinge in die Wege zu leiten, die der Moment erforderte, er blieb auch immer bei der Sache, lenkte nie mit Plattitüden von der Arbeit ab, die getan werden musste.
„Und der Tatort?“, fragte Sabine Oleschko.
„Ebenfalls gesichert, der Polizeiarzt ist schon vor Ort.“
„Gut. Ist die Identität des Toten bestätigt worden?“
Als Roth ihr zunickte, erkannte sie in seinem Blick dieselbe Abneigung gegen diese Tatsache, die auch sie selbst bewegte. Nicht, dass nicht jeder Mord abscheulich und die Ermittlungen danach widerlich gewesen wären, aber wenn es einen Prominenten traf, wurde alles nur unnötig kompliziert.
Das Foyer war erfüllt vom Stimmengewirr der Besucher, die sich entweder noch an der Garderobe drängten, oder schon mit ihren Kleidungsstücken über dem Arm herumstanden und mit besorgten Gesichtern darauf warteten, dass die Polizei ihnen erlaubte, die Messe zu verlassen. Die Ersthelfer der Rettung hatten neben der Garderobe einen provisorischen Stützpunkt aufgebaut, mehrere Menschen saßen in Tragesesseln oder lagen auf Tragbahren und wurden versorgt. Ein Mord war nichts für schwache Nerven, auch wenn man nicht mehr davon mitbekommen hatte als die bloße Nachricht.
Die Türen zur Halle 1 standen offen. Die Chefinspektorin sah mit Genugtuung, dass am Durchgang Security-Leute standen, was bedeutete, dass deren Kommandant dem Ersuchen der Exekutive um Zusammenarbeit nachgekommen war. Das würde in den kommenden Stunden vieles erleichtern.
„Wo ist die Toilette?“, fragte Sabine.
„In Halle 3.“
„Also gut“, meinte sie, „zuerst dorthin, dann zu den Zeugen. Wer hat die Leiche gefunden?“
„Einer der Aussteller. Er wartet in Halle 4, gemeinsam mit dem Messedirektor und den restlichen Anwesenden.“
Irritiert sah sich die Chefinspektorin um. Die hohe, weitläufige Bogenhalle war hell erleuchtet, vereinzelt sah sie Menschen zwischen den Ständen umhergehen. Ihre Armbanduhr zeigte 19.24 Uhr. „Warum sind so viele Leute hier? Hat die Messe nicht schon um fünf geschlossen?“
„Heute ist der Ausstellerabend der Herbstmesse“, sagte Gruppeninspektor Roth.
„Was heißt das?“
„Der Ausstellerabend wird immer am Abend nach dem ersten Messetag abgehalten“, erläuterte er, „als Dankeschön der Messeverwaltung an die Aussteller.“
„Aha – und was wird da geboten?“
„Büffet, Getränke, Musik ... geselliges Beisammensein!“
Sabine schnaubte. Mord infolge geselligen Beisammenseins – das bedeutete viele Verdächtige und somit jede Menge Arbeit. „Ich gehe einmal davon aus, dass der Täter noch nicht gefasst ist?“
„Leider nein.“
„Also gut“, seufzte sie, „dann das volle Programm: Jeder Anwesende wird registriert, fotografiert und vernommen. Mich interessiert, warum und seit wann jeder hier ist, in welcher Beziehung er oder sie mit dem Mordopfer gestanden ist, wer mit dem Opfer geredet hat und worüber, und natürlich, wer als Letzter mit ihm zu tun gehabt hat. Darüber hinaus interessieren mich Beobachtungen von verdächtigen Geschehnissen, die mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnten. Alles klar?“
„Alles klar.“ Roth zückte sein Handy, bereit, die Befehle weiterzugeben.
„Mit ‚jeder Anwesende’ meine ich auch die Leute von der Messe, von der Security sowie jeden anderen, der auch nur annähernd so aussieht wie ein Mensch“, fuhr die Chefinspektorin fort, „und stellen Sie gleich eine Gruppe zusammen, die die Aussagen noch heute Nacht auswertet, ich erwarte morgen im Laufe des Vormittags einen ersten Überblick.“
„Jawohl!“ Der Tonfall des Gruppeninspektors verriet nichts über seine Emotionen, aber Sabine wusste, dass er Profi genug war, um die Dringlichkeit der Situation zu begreifen. Mit etwas Glück befand sich der Täter noch auf dem Messegelände, und wenn das stimmte, standen die Chancen gut, den Fall trotz der großen Zahl an Verdächtigen rasch aufzuklären.
Während Roth telefonisch entsprechende Befehle erteilte, passierten sie den Durchgang zur nächsten Halle, durchquerten diese sowie das daran anschließende Freigelände und gelangten so in die Halle 3. Gleich hinter der Eingangstür, in einem Vorraum zur eigentlichen Halle, tippte Roth, noch immer telefonierend, die Chefinspektorin an und deutete nach oben. Der Vorraum diente als Stiegenhaus, rechts und links führten Treppen nach oben. Im Halbstock gab es einen Verbindungsgang zwischen den beiden Treppen, in dem sich die Toiletten befanden. Als die beiden Kriminalpolizisten diesen betraten, sah Sabine ein paar junge Männer mit käsebleichen Gesichtern am Boden kauern, während andere Leute anscheinend unschlüssig herumstanden. Der Eingang zur Herrentoilette wurde von zwei Beamten des Einsatzkommandos Cobra bewacht. Roth gestikulierte der Chefinspektorin, dass er hier im Gang bleiben und weitere Telefonate führen würde. Sie nickte, hielt den Cobra-Beamten ihren Dienstausweis hin und betrat die Toilette.
Im schmalen, weiß gekachelten Korridor zwischen Pissoir-Becken und Toilettenkabinen, ganz hinten, drängten sich zwei Leute um eine rücklings am Boden liegende Männergestalt, die, das erkannte Sabine schon vom Eingang aus, in modische Tracht gekleidet war. In dem Mann, der bei der Leiche kniete, erkannte sie den Polizeiarzt Doktor Grabner, und der junge Kerl mit dem bleichen Gesicht und den krampfhaften Schluckbewegungen, der offensichtlich vergebens versuchte, seine Aufmerksamkeit von den Gegebenheiten hier abzulenken, musste sein Gehilfe sein.
Sabine nahm die Eindrücke in sich auf. Bisher wusste sie nur, dass rund eine halbe Stunde zuvor hier in der Herrentoilette der Halle 3 ein Kärntner Politiker sein Leben in einer Weise verloren hatte, die auf den ersten Blick nach Mord aussah. Doch bis auf die Tatsache, dass dort vorne eine Leiche auf den kalten Fliesen lag, deutete nichts auf ein Gewaltverbrechen hin. Weder Blut noch eine Tatwaffe waren zu sehen, und der Geruch nach Urin, Pissoirkugeln und Erbrochenem war ihr vertraut, seit sie zum ersten Mal in einer Männertoilette ermittelt hatte.
Als sie näherkam, wurde Doktor Grabner auf sie aufmerksam. Er schob seine Brille mit dem Ärmel seines linken Oberarms nach oben und nickte ihr zu, als er sie erkannte.
„Gute Abend, Herr Doktor“, sagte sie, „ich meine ... Sie wissen schon.“
„Ja“, der Polizeiarzt lächelte leicht, „in unserem Metier ändern die gängigen Höflichkeitsfloskeln ihre Aussage je nach Situation.“ Der Spruch klang ausgeleiert.
„Wie sieht’s denn aus?“ Sabine trat näher heran und musterte