Die Tochter des Granden. Karl MayЧитать онлайн книгу.
dem Nachbarn wieder übergeben hatte, holte er seine Instrumente und eilte nach dem Schloß.
Es trieb ihn zu der Parkpforte, an der er gestern abend von der Geliebten Abschied genommen hatte. Jene stand offen, und er trat ein, wandte sich mit raschen Schritten der Richtung nach dem Schloß zu, eilte durch einen langen Laubengang und wollte nun einen kleinen freigelassenen Platz betreten, als er plötzlich in höchster Überraschung haltmachte. Vor ihm stand – Rosetta.
Sein erschrockenes Auge hing an ihr wie an dem Bild eines entzückenden Traums, aber sein Herz pochte wie unter einer unglückseligen Erkenntnis. Konnte diese Dame eine Gesellschafterin sein?
»Rosetta!« rief er, die Hände halb verlangend, halb abwehrend nach der Herrlichen ausstreckend. – »Señor Carlos!« antwortete sie. »Wie kommen Sie so früh in den Park?« – »Oh, mein Gott, träume ich? Ich ahne das Entsetzliche. Señorita, Dona, Sie sind nicht Rosetta, die Gesellschafterin, sondern...« – »Sondern?« fragte sie. »Fahren Sie fort, Señor.« – »Sie sind Condesa Rosa.« – »Ja, ich bin es; sie haben richtig geraten, Carlos«, erwiderte sie, indem sie ihm die Hände entgegenstreckte. »Können Sie mir vergeben?« – »Vergeben? O mein Gott, wie traurig ist das! Ja, nun weiß ich, warum wir scheiden müssen. Warum haben Sie mir das angetan, warum, Doña Rosa?«
Sie senkte die Lieder und gestand mit zitternder Stimme:
»Weil ich Sie liebte und einige Augenblicke glücklich sein wollte. Das ist nun aus, und um so härter ist die Strafe. Mein Vater – aber ich sehe Ihr Besteck, und Sie kommen so früh«, unterbrach sie sich erschrocken. »Hat dies einen Grund?« – »Einen Grund?« fragte er, immer noch wie halb im Traum. »Ach ja, ich vergesse fast das so furchtbar Wichtige. Gräfin, Ihr Vater befindet sich in höchster Gefahr!«
Über ihr schönes Antlitz zuckte ein tiefer Schreck.
»Mein Vater?« hauchte sie erbleichend. »Inwiefern?«
Er zog die Uhr, warf einen Blick auf dieselbe und antwortete:
»Mein Gott, die Zeit ist bereits da! Señora, man wird sogleich die Operation an Ihrem Vater beginnen.« – »Jetzt? Die wird ja erst um elf Uhr stattfinden!« – »Nein, man hat Sie getäuscht. Es ist ohne Ihr Wissen bestimmt worden, daß der Schnitt um acht Uhr vorgenommen wird. Ich traf auf meinem Morgenritt den Arzt aus Manresa, von dem ich es erlauschte, ohne mich zu erkennen zu geben.« – »Heilige Madonna! Man verfolgt böse Absichten, sonst würde man mich nicht zu hintergehen suchen. Kommen Sie, Señor, kommen Sie schnell, wir müssen diese Tat verhüten!«
Sie wandte sich und eilte in höchster Aufregung dem Schloß zu; er folgte ihr.
Als sie den Eingang erreichten, war man gerade beschäftigt, ein Pferd in den Stall zu ziehen. Sternau erkannte es als dasjenige des Arztes aus Manresa, der sich sehr gesputet haben mußte, um so schnell in Rodriganda sein zu können.
»Eilen Sie, Señorita!« mahnte der Deutsche. »Die Operateure sind bereits versammelt; wir haben nicht die mindeste Zeit zu verlieren.« – »Vorwärts! Schnell, schnell!« rief die Gräfin, indem sie die Freitreppe emporstieg und dann in einen mit kostbaren Teppichen belegten Korridor einbog, wo vor einer Tür ein Diener stand. »Ist der Graf erwacht?« fragte sie diesen. – »Ja, gnädige Condesa«, lautete die Antwort. – »Ist er allein?« – »Nein. Die Ärzte sind bei ihm.« – »Wie lange schon?« – »Zehn Minuten.« – »Ah, so kommen wir vielleicht noch nicht zu spät! Hinein, Señor!«
Sie wollte eintreten, doch der Diener schritt ihr entgegen und erklärte in einem zwar sehr höflichen, aber doch entschiedenen Ton:
»Verzeihung, Condesa, ich habe den strengen Befehl, jedermann bis auf weiteres den Zutritt zu verweigern.« – »Auch mir?« – »Besonders Ihnen.«
Ihr Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. Sie warf das Köpfchen mit einer unnachahmlich stolzen Bewegung zurück und fragte:
»Wer hat Ihnen diesen Befehl erteilt?« – »Graf Alfonzo, der auch zugegen ist« – »Ah, also dieser! Machen Sie Platz!« – »Ich darf nicht! Verzeihung Condesa; ich kann nicht anders, denn ich habe den Befehl ...«
Der Diener konnte nicht weitersprechen, denn Sternau faßte ihn beim Arm, schob ihn wortlos, aber mit unwiderstehlicher Gewalt beiseite und öffnete die Tür.
Diese führte in das Vorzimmer des Grafen, in das sie eintraten. Der Diener folgte ihnen, wagte aber kein weiteres Wort des Widerspruchs. Von hier aus ging eine Tür nach dem Empfangszimmer des Schloßherrn. Gräfin Rosa fand dieselbe verschlossen und klopfte infolgedessen daran.
»Wer ist draußen?« fragte nach Wiederholung des Klopfens endlich eine Stimme, die sie als diejenige des Bruders erkannte. »Ich selbst«, antwortete sie. »Öffne schnell!« – »Du, Rosa?« klang es mißmutig und überrascht zurück. »Wer hat dich eingelassen?« – »Ich selbst« – »War der Diener nicht auf seinem Posten?« – »Doch. Öffne schnell, Alfonzo!« – »Ich bitte dich, nach deinem Zimmer zurückzugehen. Die Ärzte haben die Gegenwart anderer streng verboten!« – »Die meinige lasse ich mir nicht verbieten, wenigstens jetzt nicht. Es ist noch lange nicht elf Uhr!« – »Papa hat befohlen, daß die Operation bereits jetzt vorgenommen werde, und eine solche ist nicht für Damenaugen.« – »Ich muß noch vorher mit ihm sprechen.« – »Es geht nicht. Man beginnt bereits ...«
Diese letzten Worte hatten nicht mehr den rücksichtsvollen Klang wie die vorhergehenden. Sie hatten einen scharfen, ungeduldig-abweisenden Ton, als meine der Bruder, die Angelegenheit hiermit beendet zu haben. Dies regte, anstatt abzuschrecken, die Gräfin nur noch mehr auf.
»Alfonzo«, rief sie streng, »ich verlange Zutritt, und den darfst du mir nicht verwehren. Ich habe das Recht und die Pflicht, vorher den Vater zu sprechen!« – »Er wünscht es nicht. Übrigens habe ich jetzt keine weitere Zeit zu einer Unterhaltung bei verschlossener Tür. Gehe fort, denn dein Klopfen ist nutzlos.« – »So öffne ich selbst!« – »Versuche es!«
Diese beiden Worte wurden mit einem häßlichen Lachen gesprochen; dann hörte man, daß der Sprecher sich entfernte.
»Mein Gott, was soll ich tun?« fragte Rosa ihren Begleiter.
Dieser lächelte überlegen, zögerte aber zu antworten, da er auf etwas zu horchen schien, was jetzt in den verschlossenen Räumen vor sich ging.
»Gnädige Condesa«, meinte der Diener, indem er in demütiger Haltung näher trat, »ich bin überzeugt, daß man nicht öffnen wird. Haben Sie die Gnade, dieses Vorzimmer zu verlassen ...« – »Schweigen Sie!« unterbrach sie ihn mit einer gebieterischen Handbewegung.
Sie hätte dieser Zurechtweisung des Lakaien vielleicht noch einige erregte Worte hinzugefügt, aber Sternau winkte ihr, das Ohr an die Tür zu halten. Sie tat es und hörte, wie aus der Ferne, die Stimme ihres Vaters in regelmäßigen Zwischenräumen zählen:
»Fünf – sechs – sieben – acht – neun – zehn – elf ...« – »Was ist das?« fragte sie, noch mehr als vorhin erbleichend. »Sein Zählen soll das Fortschreiten der Betäubung markieren.« – »So wird man wirklich schneiden?« – »Allerdings.« – »Das darf nicht geschehen, das darf nicht geschehen!« rief sie in höchster, in entsetzlicher Angst. »Señor, helfen Sie mir!« – »Geben Sie mir Erlaubnis zur Gewalt?« – »Ja – aber handeln Sie sofort!«
Da schritt Sternau zu der Tür und erhob den Fuß, ein lautes Krachen erscholl, und der Eingang war frei. Der starke Mann hatte die feste, hohe Tür mit einem einzigen Fußtritt aus dem Schloß getreten. Jetzt stand er mit der Gräfin im Empfangszimmer des Grafen. Dieses war leer, aber weiterhin ertönten laute Stimmen, und der nebenanliegende Raum wurde geöffnet. Graf Alfonzo und einer der Ärzte traten ein.
»Was ist das?« rief der erstere. »Ich glaube gar, du wagst es, Gewalt anzuwenden!«
Er übersah es in seiner zornigen Überraschung, daß Rosa nicht allein vor ihm stand. Wer ihn jetzt so erblickte, mit den drohend blitzenden Augen und den stark angeschwollenen Zornesadern an der zwar niedrigen, aber sehr breiten Stirn, der konnte ihn recht