Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Immanuel KantЧитать онлайн книгу.
Da zeigt es sich, daß als sogen. reine oder apriorische Anschauungsformen des Sinnes oder der Sinnlichkeit die des Raumes und der Zeit, des Nebeneinander und des Nacheinander, anzunehmen sind. Durch sie werden vom wahrnehmenden Subjekt räumliche und zeitliche Anordnung in das Chaos sinnlicher Empfindungen »hineingeschaut« und dieses dadurch in eine Welt räumlich und zeitlich verbundener und geschiedener Erscheinungen verwandelt. Letztere machen daher das eigentliche Objekt des Sinnes aus, und durch sie wird dem sonst ganz leeren Verstand Stoff zu weiterer Verarbeitung geliefert. Dieses sinnliche Anschauen macht auch zugleich sinnliche Erkenntnis durch synthetisch-aposteriorische Urteile möglich, indem es die zur Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt nötige sinnliche Anschauung liefert. Das reine Anschauen dagegen ist dasjenige, das mathematische Erkenntnis durch synthetisch-apriorische Urteile möglich macht, indem es die zur Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt nötige Anschauung liefert, die hier, wo es sich um nichtsinnenfällige Objekte handelt, keine sinnliche sein darf. Demjenigen Abschnitt der Kritik, in dem es sich um die Entdeckung der apriorischen Elemente der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) handelt, hat K. deshalb den Namen: transzendentale Ästhetik (Wahrnehmungslehre) gegeben. Und hiermit ist die Frage beantwortet, wie reine Mathematik möglich sei, nämlich nur unter der Voraussetzung der reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit. Die nächste Folge aus dieser von K. behaupteten »Idealität« von Raum und Zeit ist die, daß beide auf das, was unabhängig von ihnen ist, das Ding an sich, keine Anwendung finden können, dieses also gar nichts mit Raum und Zeit zu tun hat. Unsre gesamte Erkenntnis bleibt auf die Erscheinungswelt (phaenomenon im Gegensatz zur »intelligibeln«, noumenon, unter der das Ding an sich verstanden wird) beschränkt. Wie Raum und Zeit die apriorischen Formen des Sinnes, so stellen zwölf ursprüngliche Urteilsformen die apriorischen Funktionen des Verstandes und drei ursprüngliche Schlußformen diejenigen der (theoretischen) Vernunft dar. Wie durch Raum und Zeit die unverbundenen Sinnesempfindungen zu Anschauungen, so werden durch die verschiedenen Verstandesfunktionen die unverbundenen Sinnesvorstellungen in ebenso vielfacher Weise zu Begriffen und durch die verschiedenen Schlußfunktionen die unverbundenen Verstandesbegriffe in ebenso vielfacher Weise zur Einheit, zu Ideen zusammengefaßt. Jeder der zwölf apriorischen Verstandesfunktionen, der Urteilsformen, entspricht ein reiner Verstandesbegriff (Stammbegriff, Kategorie), jeder der drei apriorischen Vernunftfunktionen eine reine Vernunftidee. Wie Raum und Zeit apriorisch sind, so auch die Kategorien, nämlich: Allheit, Vielheit, Einheit, die der Quantität, Realität, Negation, Limitation, die der Qualität, Substanz und Inhärenz, Kausalität, Wechselwirkung, die der Relation, Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit, die der Modalität unterstehen. Ebenso apriorisch sind die Ideen: die der Seele, die der kategorischen, der Welt, die der hypothetischen, der Gottheit, die der disjunktiven Schlußform entsprechen. Die Deduktion der Kategorien als apriorischer Verstandes- und die der Ideen als apriorischer Vernunftfunktionen bildet zusammen die transzendentale Logik, die wieder in die transzendentale Analytik (Verstandes-) und transzendentale Dialektik (Vernunftlehre) zerfällt. Aus den Kategorien leiten sich wieder Grundsätze des reinen Verstandes ab, d. h. die Regeln des objektiven Gebrauchs der Kategorien; ein solcher Grundsatz ist z. B.: Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Diese Grundsätze liegen aller Erfahrungskenntnis zugrunde, bilden eine reine Wissenschaft, so daß hiermit die zweite Frage erledigt ist, wie reine Naturwissenschaft möglich sei. Zugleich sind nun die Elemente der Erfahrung angegeben: die reinen Anschauungsformen, die reinen Verstandesformen und die Materie, die in die Anschauungsformen kommt, damit eine Anschauung daraus wird, d. h. die Empfindung, die, als auf Affektion beruhend, »ein Ding an sich« voraussetzen läßt, über dessen Qualität wir freilich gar nichts aussagen können, weder daß es eins, noch daß es vieles, weder daß es Substanz, noch daß es Ursache sei (wenn letztere ihm abgesprochen wird, so liegt allerdings ein Widerspruch vor zu der Notwendigkeit, daß es affiziert). Zugleich finden aber die Erkenntnisformen nur Anwendung auf die Erscheinungsobjekte, nicht auf Transzendentes. Auf solches sie aber doch zu beziehen, wird der Mensch durch seine ganze Anlage genötigt, so daß Metaphysik nicht nur möglich, sondern wirklich ist, und hiermit die dritte oben erwähnte Frage beantwortet ist. Freilich kommen hierbei nur Sophistikationen der Vernunft zustande, da den Ideen nur regulative, nicht konstitutive Bedeutung zukommt. Der Schluß von der Idee der Seele auf deren Existenz ist ein »zwar unvermeidlicher«, aber nichtsdestoweniger ein Fehlschluß (»Paralogismus der reinen Vernunft«). Der Versuch, der Idee der Welt Realität beizulegen, führt unter jedem der vier möglichen Hauptgesichtspunkte auf eine Antinomie, d. h. auf ein Paar einander ausschließender Gegensätze, von denen jeder sich mit gleich guten Gründen bejahen und verneinen läßt, z. B.: die Welt hat einen Anfang in der Zeit und Grenzen im Raum, und: sie hat beides nicht. Die für die Realität der Gottesidee möglichen oder doch wenigstens bisher versuchten Beweise: der ontologische, kosmologische und physiko-teleologische, sind sämtlich irrig. Dieses Ergebnis der »Kritik der reinen Vernunft«, das von der gesamten Welt außer uns, von der absoluten, nur das raum- und zeitlose Ding an sich und auch dieses nur nach seiner Existenz, nicht nach seiner uns gänzlich unbekannt bleibenden Qualität übrigläßt, ist es, das K. bei seinen Zeitgenossen den Beinamen des »Alleszermalmers« verschafft hat. Hiermit ist die alte dogmatische Metaphysik, wiewohl sie ihren Grund in der menschlichen Anlage hat, gestürzt, und als Wissenschaft hat nur die kritische Metaphysik, d. h. die Kritik, Geltung.
2) Kritik der (reinen) praktischen Vernunft. K. hatte so die wichtigsten Gegenstände unsrer ganzen Forschung dem Streite der Meinungen auf dem Gebiete der Erkenntnis enthoben, er mußte das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu machen, den er für wichtiger hielt als das Wissen, und dem er hiernach einen hervorragenden Platz in seiner Philosophie einräumte. Er gewann ihn seiner Ansicht nach mit Sicherheit auf dem Gebiete der praktischen Vernunft, von dem auch die Gegenstände der natürlichen Religion abhängig sind. Wie die Kritik der reinen Vernunft auf die Entdeckung des a priori im Erkenntnis-, so geht die der praktischen auf die Auffindung des a priori im Begehrungsvermögen aus. Wie ohne Allgemeinheit und Notwendigkeit kein wirkliches Wissen, so ist ohne Allgemeingültigkeit kein wirklich tugendhaft zu nennendes Wollen möglich. Das Wollen, das als gut anerkannt werden soll, muß daher von der Beschaffenheit sein, daß es ohne Widerspruch allgemein werden könnte. Daraus erhellt, daß die Luft oder der eigne Vorteil niemals als Prinzip einer Sittenlehre gelten kann, weil sowohl jene als dieser nur individuelle Geltung besitzen. Wie nicht der Inhalt, sondern die Form Allgemeinheit und Notwendigkeit auf dem Gebiete des Wissens möglich macht, so entscheidet nicht der Inhalt, sondern die Form (die Allgemeingültigkeit der Maxime) des Wollens, ob es als solches gut sei. Das sittliche Wollen schließt jedes andre Motiv als die erkannte Pflichtmäßigkeit aus; der kategorische Imperativ, wie K. die Forderung des Sittengesetzes bezeichnete, ist unbedingt, ein Sollen, das von jeder Rücksicht auf Sein oder Seinkönnen unabhängig ist. Er lautet: »Handle so, daß die Maxime (der subjektive Grundsatz) deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«.
Durch die Reinheit der sittlichen Triebfedern dem materiellen Eudämonismus und Hedonismus gegenüber hat K. erhebend und läuternd auf seine Zeitgenossen und die spätern Geschlechter gewirkt. Seine Abneigung gegen die Glückseligkeit als Beweggrund der Sittlichkeit war so groß, daß selbst Schiller fand, Kants Rigorismus »schrecke die Grazien zurück«. Geschieht eine Handlung zwar dem Gesetz gemäß, aber nicht rein um des Gesetzes willen, so ist bloße Legalität, nicht Moralität vorhanden. Als höchstes Gut, nach dem der Mensch strebt oder streben soll, ist freilich die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit zu betrachten, womit dem Eudämonismus doch ein gewisses Recht eingeräumt ist. Da nun die sinnliche Welt weder die Tugend in ihrer Vollendung, noch die Glückseligkeit in ihrer höchsten Potenz gewährt, noch auch beide hier immer verbunden vorkommen, so macht die praktische Vernunft folgende Postulate: Zur Erreichung der höchsten Tugend wird die Unsterblichkeit gefordert, zur Verwirklichung der Verbindung der höchsten Glückseligkeit mit der vollendetsten Tugend, d. h. zur Realisierung des höchsten Gutes, aber ist das Dasein Gottes notwendige Bedingung. Wenn also das höchste Gut verwirklicht werden soll, so muß die Unsterblichkeit der Seele und mit ihr ein unendliches Fortschreiten zu höherer Vollendung und Heiligkeit vorausgesetzt werden; es muß ferner ein Wesen geben, das die gemeinsame Ursache der natürlichen und sittlichen Welt ist und Tugend und Glückseligkeit in ein entsprechendes Verhältnis zu setzen vermag. Ein solches Wesen ist aber Gott. Auch