Ich bin, was ich bin. Claudio HonsalЧитать онлайн книгу.
über Musik und Musical erfahren, ich war wissbegierig. Aber das hatte auch einen konkreten Grund, den ich nicht eingeplant hatte. Man hatte mir eine kleine Bürde auferlegt: In einer Klausel meines Studienvertrages war enthalten, dass ich innerhalb eines halben Jahres eine Nachprüfung im Fach „Musikalität“ – sprich Notenlesen – machen musste. Ein angehender Musikstudent ohne Notenkenntnisse, das konnte man an einer so renommierten Akademie nicht akzeptieren.
Zusätzlich musste ich mit einem weiteren unerwarteten Problem zurechtkommen, das beinahe noch mehr schmerzte: das zugesagte BAföG, die staatlich geregelte Unterstützung für die Ausbildung von Schülern und Studenten in Deutschland, blieb aus. Meine Eltern hatten zumindest auf dem Papier durch den Besitz unseres Bauernhofs und die Einnahmen aus dem Getränkevertrieb ein zu großes Vermögen. Die Realität sah völlig anders aus, denn meine Eltern hatten all ihr Geld in den Betrieb gesteckt und zusätzlich Kredite aufgenommen, es war kaum Bares da. Eine finanzielle Unterstützung meines Studiums wäre für sie zu diesem Zeitpunkt unmöglich gewesen.
Da stand ich nun, und selbst die halbe Miete für die kleine Wohnung in der Rathenower Straße im Stadtteil Moabit wurde für mich zur fast unleistbaren Herausforderung. Die gefühlten zwei Quadratmeter Wohnfläche meines winzigen Durchgangszimmers kosteten mich im Monat 200 DM, die ich nicht aufbringen konnte. Etwas Geld hatte ich während meiner Zivi-Zeit zur Seite gelegt, aber in Berlin herrschten finanziell andere Dimensionen.
„Was tun?“, war der einzige Gedanke, der mir tagelang durch den Kopf ging. Sollte ich den Traum schon wieder ausgeträumt haben, weil er einfach nicht finanzierbar war?
In meiner Verzweiflung und in Ermangelung an Freunden oder Vertrauten in der Großstadt griff ich zum Telefon und rief meine Mutter an. „Mama, ich habe kein Geld mehr, ich komme wieder zurück nach Hamm. Es hat so keinen Sinn.“ Ich hatte in diesem Moment Tränen in den Augen und ein Schluchzen in der Stimme. Die Antwort aus Hamm hörte sich wie ein Echo an, denn auch meine Mutter begann 500 Kilometer von mir entfernt zu weinen. Es waren erst zwei Monate vergangen, seitdem ich meine Heimatstadt mit stolzgeschwellter Brust verlassen hatte. Nicht um die Schmach ist es mir in dieser Sekunde gegangen, nein, um das Zerplatzen meines Traums. Meine Mutter konnte mir nicht helfen, so sehr sie auch wollte.
Doch dann kam, wie ein rettender Engel, meine Schwester Annette helfend ins Spiel. Als Medizinisch-technische Assistentin an einer Kurklinik in Hamm verdiente sie ganz gut. Sie liebte mich über alles, glaubte fest an mich und unterstützte mich schließlich durch die monatliche Zahlung meiner Miete. Ein Darlehen unter Geschwistern, das ich ihr später, als es mir möglich war, zurückzuzahlen begann, nicht nur mit Geldscheinen, sondern vor allem in Form von Einladungen zu Reisen, Übernachtungen in schönen Hotels, mit Dingen, die für meine Schwester nicht alltäglich waren und mit denen ich ihr eine Freude bereiten konnte.
Annette hat mich gerettet, und sie ist bis heute der selbstloseste Mensch, den ich je kennengelernt habe.
Marlène Charell und ein Job als Kellner brachten mich über die Runden
Die belastenden Gedanken an das liebe Geld waren wie weggefegt. Mein Studienalltag konnte beginnen. Im Gegensatz zu anderen Studienzweigen wie Medizin oder Jus hatte ich auf keine Prüfungsscheine und Zeugnisse hinzuarbeiten, sondern musste neben Ballett, Gesang und Schauspiel Praktika und anstrengende Trainings absolvieren. Es war die körperliche Arbeit an mir selbst, die von nun an meine größte Herausforderung und härteste Belastung darstellte. Ich war nach jedem Training müde und ausgelaugt, aber so war es eben.
An ein Dazuverdienen, einen Nebenjob war nicht zu denken. Erst später, als ich die Studienabläufe gänzlich innehatte, habe ich begonnen, nebenbei zu arbeiten. Einer der lustigsten Jobs, der mir in Erinnerung ist, war jener als singender Kellner in einer Bar. Am wichtigsten in Hinblick auf mein Studium war die Tätigkeit als Background-Akteur und Tänzer in Menschen, Tiere, Sensationen, der riesigen Zirkus-Varieté-Show in der Deutschlandhalle. Die damals sehr beliebte Moderatorin und Sängerin Marlène Charell hatte mich höchstpersönlich an ihre Seite als Tänzer in die Show gecastet, und so verbrachte ich zwei bis drei Vorstellungen pro Woche zwischen Revuegirls, Pferden und Elefanten. Den Spaß, den ich hatte, konnten die Herren an der HdK nicht teilen. Die Schule goutierte nicht, dass einer ihrer Studenten dort auftrat. Gott sei Dank hatte das keine Folgen für mich und ich konnte weitermachen, denn ich brauchte das zusätzliche Geld. Für Unterrichtsmaterialien wie Steppschuhe, Tanzoutfits und Ähnliches musste ich selbst aufkommen.
Es war eine harte Zeit, diese notwendige Doppelbelastung von Studium und Abendauftritten. Das änderte sich allerdings sehr schnell, als ich mein erstes Engagement bei The Rocky Horror Show an den Kammerspielen bekam. Nicht unbedingt, was den Zeitaufwand und die Anstrengungen, die vielen schlaflosen Nächte nach den Vorstellungen, in denen ich mich auf die Uni vorbereiten musste, anlangt, aber was meine kargen Finanzen betraf. Ich spielte damals oft fünfmal die Woche und bekam 50 DM pro Show. Das war verdammt viel Geld, und damit konnte ich schließlich in den beiden Ausbildungsjahren ganz gut über die Runden kommen.
Gegen Ende meines Studiums ergab sich für meine berufliche Laufbahn eine besondere Chance: ein Engagement bei Starlight Express in Bochum. Damit begann für mich nicht nur eine Karriere als Musicaldarsteller, sondern auch das neue, für mich völlig ungewohnte Leben aus dem Koffer. Natürlich konnte ich zu diesem Angebot nicht Nein sagen. Als erster deutschsprachiger Darsteller spielte ich die Rolle des Rusty.
Herumzureisen, neue Theater und Städte kennenzulernen, gehörte nun zu meinem Alltag: von Bochum nach Wien, von Wien nach Schwäbisch Hall und weiter nach Amsterdam – nun war ich, der kleine Uwe Kröger aus Hamm in Westfalen, einen großen Schritt weiter, meine Dreams on Broadway Realität werden zu lassen. Der Traum und die Wirklichkeit waren ab nun Hand in Hand unterwegs.
Vater und Sohn. Rote Bäckchen – gesund, munter und stets
hungrig war ich als Kind
Ob auf ausgedehnten Spaziergängen mit meiner Mutter und Annette oder beim Kasperle-Spielen, langweilig ist uns nie geworden
Annette hat immer ein wachsames Auge auf mich geworfen, auch bei unseren sonntäglichen Familienausflügen im Westfalen-Land
Wer wird wohl heute länger unter der Dusche stehen, Annette oder ich?
Familienausflug in einem Park in Hamm: Wolfgang liegt noch im Kinderwagen.
Bergwandern mit Annette in Garmisch-Partenkirchen
Mit Wolfgang auf einem der üblichen Jagdausflüge.
Geschwister-Trio heute und in frühen Jahren
Familienidylle anno 1965. Ob Mithilfe bei Bauarbeiten oder den Dackel ausführen, ich hatte immer jede Menge zu tun