Ich bin, was ich bin. Claudio HonsalЧитать онлайн книгу.
so unbedarft und naiv, dass sie den Experten vielleicht sogar Denkanstöße gegeben haben. So verliefen die ersten Wochen, in denen ich sämtliche Stationen kennen lernen durfte.
Es hat nicht lange gedauert, bis ich mich in das tägliche Arbeitsumfeld eingewöhnt hatte und verstehen lernte, wie man auf verhaltensauffällige junge Menschen zugehen und mit ihnen umgehen muss. Das Vertrauen zu den Zöglingen war schnell hergestellt, schließlich war ich selbst ein junger Mann von 20 Jahren und stand ihnen somit näher als die Ärzte, Psychiater und altgedienten Betreuer. Erleichtert wurde der Aufbau von Beziehungen durch meinen unbekümmerten, manchmal übermütigen Zugang zu den Patienten, denen man oft nicht anmerkte, welch schweres Los sie zu tragen hatten. Ich fühlte mich plötzlich als wichtiges Rädchen in diesem therapeutischen Laufwerk, das sich für mich um sechs Uhr morgens zu drehen begann und oft erst um zehn Uhr am Abend zum Stillstand kam. Müde, aufgewühlt, erschöpft, aber zufrieden mit meinem Tagewerk wanderte ich dann ins Wohnheim am Institutsgelände, das nun mein neues Zuhause war.
Das Abschalten nach einem langen Arbeitstag, das Wegschieben der Gedanken an die Patienten erlernte ich erst nach Monaten. Ich verstand lange nicht, wie man am Abend den Schalter einfach umlegen, den Fernseher aufdrehen oder noch ein Bier trinken gehen konnte, wie das meine erfahrenen Kollegen machten. Wie man sich diese private Auszeit nehmen und auch noch genießen konnte, wenn doch Probleme, Ängste und die Verzweiflung der Patienten nie aufhörten. Wir waren nur ein paar Schritte entfernt von dieser grausamen Realität, der die Betroffenen 24 Stunden ins Auge blicken mussten. Ich hatte immer ein ungutes Gefühl, kam mir nachlässig, schäbig vor. Es bedurfte intensiver Gespräche mit Kollegen, bis mir bewusst wurde, dass die Abgrenzung, das Abschalten und Loslassen notwendig sind, um den Beruf effizient und mit der nötigen Distanz auszuüben.
Das Spektrum an Krankheitsbildern war vielfältig. Eher harmlos erschienen mir Fälle von Kindern, die durch falsche Erziehung das Wort Nein nie gelernt hatten, einfache Alltagsregeln nicht akzeptieren wollten und so sozial auffällig wurden. Diese Kinder betreute man in amikaler Familienatmosphäre in einem eigenen kleinen Mikrokosmos. Das habe ich gerne übernommen, und selbst als Praktikant sah ich mich immer als ein kleines, funktionierendes Steinchen in einem großen Mosaik. Ich hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, die Psychologen und Therapeuten auf ihrem oft langen Weg mit den Patienten in Richtung Genesung zu begleiten. Eine gute Beobachtungsgabe und Offenheit waren die wichtigsten Aspekte bei der täglichen Teamarbeit.
Ich erinnere mich auch gut an weniger harmlose, ja gefährliche Situationen und Konfrontationen mit Insassen, die kompliziertere Krankenakten vorzuweisen hatten. Das war nicht immer ungefährlich für das Personal.
Da gab es zum Beispiel einen jungen Mann, der unter einer starken manisch-depressiven Störung litt und eine langwierige Lithium-Therapie absolvierte. Er randalierte häufig und es kam immer wieder zu körperlichen Angriffen auf das Personal. Für mich war das erschreckend und ungewohnt, lehne ich doch jegliche Form von Gewalt ab. Manchmal wähnte ich mich in einem schlechten Horrorfilm, wenn Patienten wie dieser junge Mann plötzlich in einer Phase ihres Leidens übermenschliche körperliche Kräfte entwickelten, keine Kontrolle mehr über ihre Handlungen hatten und ich einem solchen armen, aggressiven Wesen direkt gegenüberstand. Mit der Zeit lernte ich auch diese Situationen in den Griff zu bekommen.
Vergewaltigung, Missbrauch, schwere Traumata aus der Kindheit – jeder uns Anvertraute hatte eine schlimme Geschichte, die sich oft lange nicht zeigte. Vor allem dann nicht, wenn ich mit den Betroffenen ganz friedlich bastelte, musizierte oder mit ihnen zum Einkaufen in der Stadt unterwegs war. Da waren es ganz normale junge Menschen, unauffällig, liebenswert und zutraulich. Doch wir Betreuer durften nie vergessen, warum diese Personen in psychiatrischer Obhut waren.
Für ein Greenhorn wie mich war das nicht leicht, auch nicht, was die speziellen Vorschriften im Umgang mit den weiblichen Patienten betraf. Sie waren im Frauentrakt im oberen Geschoss der Anstalt untergebracht, und als Mann durfte man nie alleine ein Zimmer betreten. Man hatte mir mehrmals eingeschärft, dass Mädchen und junge Frauen weitaus gewiefter sind als unsere männlichen Schützlinge mit Koketterie, Verdrehung von Tatsachen oder grundlosen Beschuldigungen des psychologischen Personals. Vorsicht war geboten. Ich habe zwar niemals schlechte Erfahrungen gemacht, hielt mich aber streng an die Anweisungen der Kollegen.
Ein anderer Fall ging mir an die Substanz, ich darf gar nicht daran denken. Der Name des Jungen tut nichts zur Sache, aber den Grund seines Aufenthaltes in der Klinik werde ich nie vergessen: Aus Eifersucht hatte er seinen Bruder im Affekt erschlagen. Weder an den Ort noch an den Zeitpunkt, Hergang oder das Motiv konnte sich der 16-Jährige erinnern. Aber der talentierte, zuvorkommende Jugendliche hatte die Tat eindeutig begangen und war völlig verstört in die Psychiatrie eingewiesen worden. Schwierig für mich war, dass dieser vermeintliche Gewalttäter ein sehr inniges und freundschaftliches Verhältnis zu mir aufbaute und mich als seinen älteren Bruder betrachtete. Ich war in einer emotionalen Zwickmühle, denn auch ich hatte ihn lieb gewonnen. Nur wer konnte garantieren, dass dieser liebevolle Mensch nicht irgendwann, draußen in der Freiheit, wieder ein Blackout haben würde? War es möglich, ihn zu heilen, herauszufinden, was ihm fehlte, was ihn zu der Bluttat veranlasst hatte? Nächtelang sind mir diese Fragen durch den Kopf gegangen und haben mich wach gehalten.
In meinem kargen Einzelzimmer gleich im Gebäude neben dem Institut mit Blick aus dem Fenster auf die hohen Mauern, die das Institutsgelände umgaben, wurde ich selbst zum Gefangenen, freiwillig zum Eingeschlossenen, denn in der Zeit des Zivildienstes habe ich meinen neuen Arbeitsbereich nur selten verlassen. Ich war ein Teil dieses wichtigen Ganzen und genoss lieber die Gesellschaft meines Kollegen Klaus, als in den Ort oder zu meiner Familie zu fahren. Unsere Freizeit war ohnehin spärlich, und wir versuchten, uns durch Musizieren, durch Berichte über Urlaubserlebnisse abzulenken, wenn wir uns nicht ohnedies über gemeinsame Patienten austauschten.
Es wäre nicht weit gewesen zu meinen Eltern und zu meinem Bruder Wolfgang, aber ich war froh, der Familie entronnen zu sein und mein Leben so zu führen, wie ich es zu diesem Zeitpunkt für richtig hielt. Selten nahm ich meinen alten Renault 4 mit seiner unvergleichlichen Revolverschaltung, der ich manchmal heute noch nachtrauere, in Betrieb. Manchmal setzte ich mich auf mein Fahrrad, drehte eine Runde und machte einen Anstandsbesuch bei der Familie. Das gehörte sich eben, aber mir war klar, dass mein Privatleben hintanstehen musste. Zu wichtig und spannend war mein neues Aufgabengebiet für mich.
Die Balance zwischen Zuneigung und Abstand, die Gratwanderung zwischen persönlichem Mitgefühl und professioneller Distanz zu den Patienten habe ich gelernt. Dieser Schutzmechanismus hat mir bis heute so manch guten Dienst erwiesen. Ich betrachte es als nachhaltige Lehre für meinen späteren Umgang mit Fans, mit Medien, mit vermeintlichen Freunden. In meinem jetzigen Beruf kann ich anders auf Menschen zugehen und bin dank dieser Ausbildung, vielleicht unbewusst, erst gar nicht in gefährliche Situationen gekommen.
Damals habe ich mich über kunsttherapeutische Lehrgänge und weiterbildende, praxisbezogene Studien erkundigt. Denn eines ist mir in dieser mehr als zweijährigen psychologischen Lehrzeit klar geworden: Würde ich je einen sozialen Beruf anstreben, dann nur praxisorientiert. Nicht als Theoretiker, der zuerst ein jahrelanges Studium der Psychologie absolvieren muss, sondern als Erzieher oder Pfleger, direkt eingebunden in den täglichen Betrieb. So hätte ich mir diesen Beruf vorstellen können.
Am Ende meiner spannenden Zeit als Zivi war ich reifer und gefestigt. Was ich nicht von allen Altersgenossen und einstigen Schulkollegen behaupten konnte. Vielleicht war ich auch diesbezüglich ein Einzelgänger, denn während viele von ihnen lautstark das Abrüsten vom Bundeswehrdienst feierten, fasste ich einen ganz anderen Entschluss. Nach den vorgeschriebenen 21 Monaten verlängerte ich mein Engagement als Zivildiener um ganze drei Monate und übernahm als Urlaubsvertretung für einen Kollegen dessen Position. Mag sein, dass es eine Flucht vor dem Leben draußen war, aber es war nun mein Alltag, den ich liebte und in dem ich aufging. Ich wurde sogar zur „Aushilfskraft im Erziehungsdienst“ befördert und habe ganz gut verdient. Offensichtlich entsprach ich den Anforderungen und konnte das Team überzeugen.
Auf meinem Diplom, das mir in Form eines offiziellen Arbeitsbriefes ausgestellt wurde, krönte der Vermerk „Ausgezeichnet“ meine Zivildienstzeit in der Psychiatrie. Dementsprechend emotional und tränenreich hat sich dann auch mein Abschied