Der einsame Mensch. Rotraud A. PernerЧитать онлайн книгу.
aber in eine besondere »Familie« – wie beispielsweise auch die Männer- oder Frauen- oder Kämpfer- oder Priestergruppe – aufnimmt. Das kann auch sehr schmerzhaft sein.
Ich kann mich an ein Wochenseminar im Rahmen meiner Ausbildung zur Erwachsenenpädagogin an der Wiener Pädagogischen Hochschule erinnern, das außerhalb von Wien stattfand. Zwischen den Theorieblöcken sollten wir animierende Übungen kennenlernen (die ich allerdings für Erwachsene unpassend fand). Eine dieser Übungen war für mich als bekennende Legasthenikerin unmöglich, da man die Hände in schnellem Wechsel wie bei den Rösselsprüngen im Schachspiel bewegen musste. Ich protestierte mit dem Hinweis, dass damit Außenseiter produziert würden. Ich blieb mit dieser Sichtweise allein; zu dem Schmerz des Versagens trat der Schmerz der Isolierung als potenzielle Spaßverderberin – denn diejenigen, die die Übung kannten bzw. beherrschten, fanden sie nur lustig. Sie hatten offensichtlich keine alte Neurosignatur der verweigerten Gruppenzugehörigkeit, wie sie wohl alle Schüler und Schülerinnen kennen, die damals in Schulzeiten zeitweise zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn oder auch zu widerstandsmutig waren.
Der Fairness halber möchte ich erwähnen, dass der Gruppenleiter einen halben Tag später, beim Abendessen, öffentlich bezeugte, dass er mich erst jetzt verstanden habe und mir daher recht geben wolle: Man müsse bei Übungen immer auch im Sinne von Diversität daran denken, dass das, was für die einen Ulk sei, für andere Bloßstellung von Schwächen bedeuten könne.
Genau das verstehe ich unter sozialer Kontrolle: nicht die Gleichmacherei womöglich mit Hilfe von Inszenierungen von Scham und Schuld, wie sie von manchen Werbungen in den Medien beabsichtigt sind, sondern Rücksichtnahme auf diejenigen, die vielleicht langsam, unbemittelt oder auch konsumverweigernd sind. All denen möchte ich Mut machen, Verständnis und Solidarität einzufordern anstatt sich schamhaft in Einsamkeit zurückzuziehen.
Gruppen benutzen Schuld und Scham, um die Konformität und den Zusammenhalt zu erhalten, wobei sich Scham in einer Tendenz zur Geheimhaltung manifestiert, Schuld hingegen motiviert zu beichten und sich zu offenbaren, weiß der Psychoanalytiker Jens L. Tiedemann.50 Deswegen scheuen sich nur wenige, jemanden zum Sündenbock zu stempeln: Sie rechnen damit, dass man ihn – beladen mit den Sünden der Gemeinschaft – nicht wie im Altertum in die Wüste jagen muss, sondern dass er oder sie sich selbst »exiliert«; ein klassisches Beispiel dafür sind Mobbingopfer. Scham, so betont Tiedemann, verletzt nämlich nicht nur zwischenmenschliches Vertrauen, sondern auch die innere Sicherheit.51 Und, ergänze ich, damit auch das Selbstwertgefühl, die Identität der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bezugsperson oder -gruppe und damit die soziale Gesundheit.
Bindung, Akzeptanz und
Zugehörigkeit sind überlebenswichtig.
Als heranwachsende Jugendliche stehen wir alle vor der Anforderung, uns selbst als Einzelne wie auch als Teile von Gruppierungen (Paarbildung mitgemeint) zu formen. Dafür gibt es heute eine Unzahl von Modellen – dafür sorgt schon die Produktwerbung, die auf »Kundenbindung« aus ist –, aber kaum einen begleitenden Beistand ohne eigene Absichten (wie beispielsweise Mitgliederfang politischer Parteien, besonders auffällig im Nationalsozialismus). Diese Suche nach sich selbst samt kosmetischen oder chirurgischen Körpermodifikationen, schreibt der Psychoanalytiker Mathias Hirsch (* 1942), dehnt sich heute häufig bis ins vierte Lebensjahrzehnt.52 In der Dysmorphophobie (d. h. die Angst, nicht schön zu sein) könne man die Körperkrankheit der Adoleszenz sehen, wobei die Angst vor der unbekannten Identität als Frau oder Mann auf Körperteile »verschoben« wird53 – und dies liefert wiederum einen Vorwand, sich nicht in Gemeinschaft begeben zu müssen. Ein klassisches Beispiel liefern junge Mädchen, die vor Bällen oder anderen »Herzeige-Veranstaltungen« an ihrer Haut herumdrücken, an ihren Haaren herumschnipseln oder sonst eine selbstschädigende Aktion setzen, bis sie sich so verunstaltet haben, dass sie den Stress-Auftritt vermeiden können.
In einer Welt überwiegend virtueller Kommunikation über SMS und Internet kann man diese Konfrontation »face to face« vermeiden – nicht aber das Eindringen sadistischer Attacken wie Cybermobbing. Gegen Gewalt hilft aber nur Öffentlichkeit, wie ich immer wieder betone: Man muss sich aus der Verkrümmung der Verletztheit aufrichten und Verbündete herbeirufen. Das zu organisieren, wird eine Aufgabe der Zukunft werden.
Lernziel Bindungslosigkeit?
Zu Lebenskrisen werden üblicherweise nur die allgemein verbreiteten Lebensübergänge wie Geburt eines Kindes, Berufsantritt, Heirat und Scheidung, Eintritt einer chronischen Krankheit oder Behinderung und Todesfälle gerechnet.
Lebenskrisen entstehen aber auch, wenn man erkennt, dass der eigene Lebensentwurf mit den Anforderungen der Umwelt nicht in Einklang steht. Das hat lange Zeit homosexuell l(i)ebende Menschen in Einsamkeit getrieben, ehe sich politisch – nicht parteipolitisch! – gebildete Aktivisten selbstbewusst mit ihren Forderungen nach Respekt und Gleichbehandlung der Öffentlichkeit stellten.
Aber während diese Gruppe von Menschen zumindest in Westeuropa in ihrem Bemühen um Gleichbehandlung erfolgreich war, ist dies anderen nicht gelungen: denjenigen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden wurden. Ich sehe die Ursache darin, dass schwule und lesbische »besondere« Menschen wie Künstler (»Weibliches Feingefühl« – wenn es auch gar nicht zutraf!) oder Sportlerinnen (»Es muss halt männliche Kraft sein«) mit ihren Coming-outs positive Vorurteile bedienten und damit auch für andere Berufsgruppen Maßstäbe setzten; demgegenüber sind Arbeitssuchende nicht als »etwas Besonderes« vermarktbar, geben auch selten eine »Story« ab. Der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman (* 1925) etwa schreibt: »In Ermangelung eines dauerhaften, autorisierten und unumstrittenen Wertes der Optionen, die zur Wahl stehen, kann sich die Bewertung einzelner Wahlmöglichkeiten nur am Muster vermarkteter Güter orientieren. Das ausgewählte Identitätsmodell muss auf den Markt gebracht werden, um seinen Wert herauszufinden.«54 Ein Gut hat keinen Wert, wenn es keine Abnehmer findet, und der Wert bemisst sich nach der Zahl der Abnehmer, d. h. wie stark das Bedürfnis nach diesem Gut ist. Arbeitslos sein heißt, keinen Abnehmer für die wahre Arbeitskraft zu finden. »Die Strafe für das Versagen, Abnehmer für eine entworfene und zur Schau getragene Identität zu finden oder zu schaffen, ist die Exklusion (das Ausgeschlossen-, ›Abgeschrieben‹-, Geschnitten-, Ignoriert-Werden) – das gesellschaftliche Äquivalent für eine Müllhalde.«55
Paarungsmärkte
Ich erinnere mich, wie in den späten 1950er Jahren, als ich ein Teenager war, der Begriff des »Dating« von den USA nach Europa importiert wurde: Uns war der Gedanke fremd, die Beliebtheit junger Menschen nach Aufforderungen zum Spazieren-, Tanzen- oder Ausgehen zu zählen. Europa war voll mit dem Wiederaufbau beschäftigt, Geld war (außer bei den Kriegsgewinnlern) knapp, wenn ein junger Mann ein Motorrad besaß, war das sensationell – und die Moralvorschriften waren streng. Dieser oberflächliche »American Style of Life« auf einem Partnerschaftmarkt mit Bewertung nach »Nachfrage« und »Umsatzhäufigkeit« prallte auf die europäischen Werte von Zurückhaltung, langen Wartezeiten und Treue. Erst mit der Verfügbarkeit hormoneller Antikonzeptiva änderten sich zuerst die Verhaltensweisen, und die Moralvorstellungen hinkten hinten nach … Und die Treue blieb als erste auf der Strecke. Flexibilität, behübscht als Mut zur Veränderung, wurde modern. Im Verlauf der nächsten zwanzig Jahre drang dieser Trend auch in die Arbeitswelt ein. Ich erinnere mich noch gut, wie mir ein renommierter Wirtschaftsjournalist in meiner Praxis gestand, er habe jahrelang für »hire and fire« geschrieben – aber jetzt, wo er selbst mit einem »golden handshake« verabschiedet worden war und erfahre, dass er »nichts mehr wert sei«, keine Einladungen mehr bekomme, niemand mehr an ihm interessiert sei, spüre er erst, wie brutal diese Vorgehensweise sei.
»Aus der Sicht des menschlichen Gehirns ist soziale Akzeptanz nicht minder überlebenswichtig wie die körperliche Unversehrtheit«, mahnt Joachim Bauer.56 Exklusion, Stigmatisierung, Isolation – all das sind massive Gefährdungen der psychosozialen Gesundheit und führen zu Folgekrankheiten, Suchterkrankungen inbegriffen. Je stärker jemand in der sozialen Gemeinschaft verankert und