Beten. Hans SchalkЧитать онлайн книгу.
Gabriel, Marlene, Sebastian, Sina, Teresa und Willi.
Hans Schalk
BETEN – GRUNDVOLLZUG MENSCHLICHEN LEBENS
Wie kommt Beten im Leben vor? Was verstehen wir unter Beten? Im Laufe der letzten Jahre habe ich Erfahrungen notiert, die mit Beten zu tun haben. Um mich mit Ihnen, den Leserinnen und Lesern, an das heranzutasten, was Beten zum Beten macht, helfen Menschen, die beten, vor allem Jesus, der Gott und die Menschen kennt wie niemand sonst. Von ihm her fällt Licht auf die Existenz des Menschen als betendem Wesen. Beten erweist sich als Grundvollzug menschlichen Lebens.
ERFAHRUNGEN MIT DEM BETEN
Um in einer ersten Annäherung zu schauen, wo Beten anzutreffen ist, entnehme ich aus tagebuchartigen Notizen verschiedene Situationen, in denen es meines Erachtens um das geht, was mit Beten gemeint ist. Wie zeigt sich Beten?
Am Fenster
Im Urlaub. Ich schaue ins Freie, sehe die Bäume in der Nachbarschaft, die Blumen auf dem Balkon, die Vögel auf Zweigen und Ästen, bejahe die Schönheit, freue mich an ihr. Das Offen-Sein für das, was staunen lässt, das Dankbar-Werden für das, was sich mir zeigt: Ich habe den Eindruck, dass ich bete.
In der Münchener U-Bahn
Die Streifenkarte ist gestempelt. Ich fahre die Rolltreppe hinunter. Die U-Bahn fährt ein. Menschen sitzen und stehen. Mütter mit Kinderwagen und Baby. Paare, die miteinander sprechen. Viele mit Handy oder iPad oder Buch. Ich schaue auf sie im Bewusstsein, dass Jesus jeden Menschen annimmt, sich zutiefst mit jedem verbindet. Ich kann mich innerlich an Ihn in den Menschen um mich herum wenden: Ich bete.
Da sein
Manchmal bin ich mit Freunden zu Gast in einer Benediktinerabtei. Vor dem Chorgebet werfen sich die Mönche die Kukulle über, versammeln sich im Vorraum, ziehen gemeinsam in die Kirche, verbeugen sich paarweise vor dem Kreuz, nehmen ihren Platz im Chorraum ein. Sie singen den Hymnus und die Psalmen abwechselnd zwischen linker und rechter Seite. Nach einiger Zeit – so mein Eindruck – schwebt im Raum der Kirche ein hin und her schwingender Klang. Die Seele kann mitschwingen. Ich bin hineingenommen in einen heiligen Raum. Wenn zum Magnifikat Weihrauch aufsteigt, brauche ich nur da zu sein, dabei zu sein. Es erinnert mich an die Wolke der Anwesenheit Gottes, die den Tempel von Jerusalem zur Zeit Salomos erfüllte: „Eine Wolke erfüllte das Haus des Herrn … Die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus des Herrn“ (1 Kön 8,10f). Im Beten sind wir hineingenommen in einen Raum Seiner Gegenwart. Nicht nur bei uns. Bei einem Besuch von Mitbrüdern in Japan kamen wir nach Kyoto. Die Anlage des Nishi Hongun-ji, eines buddhistischen Tempels, beeindruckte mich. Wir gingen in das Innere. Ohne Schuhe. Wir setzten uns vorsichtig auf den Tatamiboden. Es war still. Ich spürte die Atmosphäre. Ich konnte mich sammeln, einfach da sein. Als Christ denke ich an den, der sich als „der „Ich-bin-da“ geoffenbart hat. Er ist da: für mich und für alle, zu Hause und – hier.
Um anzubeten
In der Münchener Kirche der Redemptoristen ist etwas abgetrennt vom Gottesdienstraum die Sakramentskapelle. Während des Tages kommen Einzelne vorbei, knien oder sitzen vor dem Tabernakel. Der kleine Raum ist geeignet, sich zu sammeln, da zu sein – und anzubeten. Anbeten kann ich in der Kirche, doch auch außerhalb, ja überall. Was bedeutet „anbeten“? Der Paläontologe und Theologe Teilhard de Chardin SJ (1881–1955) hat es so ausgedrückt: „Anbeten heißt, sich im Unergründlichen verlieren, ins Unausschöpfbare eintauchen, im Unvergänglichen Frieden finden, in der begrenzten Unermesslichkeit aufgehen, sich dem Feuer und der Transparenz hingeben, sich bewusst und willentlich in dem Maße vernichten, als man seiner selbst bewusster wird, sich vom Grund auf Jenem schenken, der ohne Grund ist! Wen können wir anbeten? Je mehr der Mensch Mensch wird, umso mehr wird er vom Bedürfnis gepackt, und zwar von einem immer ausdrücklicheren, immer reineren, immer unmäßigeren Bedürfnis anzubeten. O Jesus, zerreiße die Wolken durch Deinen Blitz!“ (Teilhard de Chardin P., Der göttliche Bereich, 150f)
In der Umarmung
Wir sind einander begegnet und begegnen einander immer wieder. Wir wissen voneinander, von unseren Lebenswegen und von unserem spirituellen Suchen. Wenn wir uns treffen, umarmen wir uns. Nicht nur mit dem Körper. Unsere Seelen berühren sich. Es ist, wie wenn ich in sie und sie in mich versinken würde. Wohin versinke ich? In sie, in ihren Seinskern. Und dies gegenseitig. Da ist der, der sich mit jedem Menschen zuinnerst verbindet. Wir berühren uns in Ihm, dem Menschensohn Jesus. Es ist dann, wie wenn nur noch Er da wäre: Wir beten.
Beim Krankenbesuch
Mein Hausarzt rief mich an: „Ich habe mitbekommen, dass Sie Frau Maria N. kennen. Als Arzt stehe ich an den Grenzen meiner Möglichkeiten. Ich denke, es könnte ihr helfen, wenn Sie sie besuchen.“ Dann war ich bei ihr. Sie war allein in der Wohnung, der Mann bei der Arbeit. Ich hatte sie als interessierte und engagierte Frau kennengelernt. Nun lag sie kraftlos da. Man sah, dass sie litt. Ich setzte mich neben sie und konnte nichts sagen. Ich fand keine Worte. Innerlich versuchte ich, bei Ihm zu sein. Sie sagte: „Ich bin im Loch“. Und ich: „Er mit Ihnen.“ Wieder Stille. Dann ein Händedruck, ein Segen. Das war alles. Am Abend rief mich ihr Mann an und bedankte sich: „Das hat meiner Frau gutgetan!“ Ich empfand die Begegnung als ein Miteinander-Beten.
Am Grab
Meine Mutter, mein Vater, meine Stiefmutter, meine Schwägerin und deren Enkel, der sich als Jugendlicher das Leben genommen hat: Alle sind sie hier beerdigt. Ich stehe am Grab. Erinnerungen ziehen durch den Kopf. Innere Gespräche stellen sich ein: „Es wäre schön gewesen, wenn du länger hättest leben dürfen, Mama! Ich hätte dich gebraucht!“ Es ist mir, als würde sie antworten: „Ich bin doch auch jetzt bei dir!“ Der Blick geht zu den Namen auf dem Grabstein. Beim Namen und den Daten des Vaters: „Du warst ein aufrechter Mann, Papa! Wir waren zu deinen Lebzeiten nicht fähig, ganz offen miteinander zu sprechen. Jetzt ahne ich, was in dir vor sich gegangen ist.“ Ich spüre: Schweigen und Anwesenheit. Die Augen schweifen weiter – zum Namen meiner Schwägerin: „Jetzt möchte ich sterben“, hast du mir gesagt, als wir allein im Zimmer waren. Ich frage: „Wie bist du hinübergegangen?“ Ich solle mir keine Sorgen machen, glaube ich zu vernehmen. Und: „Christian‚ hast du das Nirwana gefunden, nach dem du gesucht hast?“ Es ist mir, als ob er lächeln würde. Ich stehe am Grab im Gespräch mit denen, an die das Grab erinnert. Mein Blick geht zum Kreuz, zu dem, der sagen konnte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Gespräch über das Grab hinaus – Besinnung, Gebet.
Vor dem Bildschirm
E-Mails kommen an. Allgemeine und persönliche Mitteilungen. Ich stelle mir vor, mit jeder Nachricht klopfe jemand an meine Tür. Ich bin angesprochen – und antworte. Manches kann ich zur Kenntnis nehmen und löschen. Für Zusagen bedanke ich mich, Terminanfragen sind zu klären. Bei manchem verweile ich. Ein Blick auf das Bild neben dem PC erinnert: In den E-Mails klopft Er an. – Klick zur „Tagesschau“. Neueste Nachrichten. Mir kommt die Frage: „Wo bist du da, Herr?“ Ich meine zu vernehmen: „Ich bin da in den Tätern und in den Opfern, in den Politikern und in den Sportlern und in …“ Das Jesusgebet steigt in mir auf: „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich unser“ und der Zusatz, den ich in der Münchener Rumänisch-Orthodoxen Gemeinde gelernt habe: „… und deiner Welt“!
Mit Jesus unterwegs
In den „Exerzitien“ ging es um unsere Beziehung zu Jesus. Der Exerzitienbegleiter gab die Anregung, einen Spaziergang zu machen und sich dabei vorzustellen, dass Jesus mit einem mitgehe. So ging ich nicht allein, sondern mit Ihm. Ich schaute mit Ihm auf die Natur um mich herum, auf die Menschen, die entgegenkamen. Ich konnte mit Ihm