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Maigret und die Schleuse Nr. 1. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.

Maigret und die Schleuse Nr. 1 - Georges  Simenon


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die Familie schon benachrichtigt?«

      »Nein. Man wollte erst sicher sein.«

      »Zieh dir Strümpfe an«, sagte ein Schiffer zu seiner Frau, »und bring mir meine Mütze.«

      Und so huschte von Zeit zu Zeit eine Gestalt von einem Kahn auf den anderen. Durch die Luken waren Petroleumlampen, zerwühlte Betten und Fotos an den Holzwänden zu erkennen.

      Leise sagte der Arzt zum Inspektor:

      »Sie sollten den Kommissar benachrichtigen. Bevor man den Mann ins Wasser geworfen hat, ist er mit einem Messer verletzt worden.«

      »Ist er tot?«

      Als hätte der Ertrunkene nur darauf gewartet, schlug er die Augen auf und spuckte unter Stöhnen Wasser aus. Er sah alles verkehrt herum, denn er lag auf dem Boden, und sein Horizont war der mit Sternen übersäte Himmel. Für ihn waren die Menschen ins Unendliche hineinragende Giganten und ihre Beine gewaltige Säulen. Er sagte nichts. Er dachte vielleicht nicht einmal etwas. Teilnahmslos blickte er ins Leere, und erst allmählich wurden seine Pupillen wieder beweglich.

      Offenbar war sein Stöhnen gehört worden, denn plötzlich kamen alle gleichzeitig angelaufen, und die Polizisten gaben der Szene nun einen normalen, offiziellen Charakter: Sie bildeten Spalier, drängten die Menge zurück und ließen nur diejenigen hindurch, deren Anwesenheit notwendig war.

      Der Liegende sah, wie sich der Raum um ihn herum leerte. Uniformen und Schirmmützen mit Silbertressen tauchten vor ihm auf. Er spuckte weiter graues Wasser, es troff ihm vom Kinn auf die Brust, während man unaufhörlich seine Arme bewegte. Auch die Bewegungen seiner Arme verfolgte er interessiert, und er runzelte die Stirn, als jemand in der letzten Reihe flüsterte:

      »Ist er tot?«

      Der alte Gassin erhob sich, ohne seine Flasche loszulassen, machte drei unsichere Schritte, stellte sich zwischen die Beine des anderen und sprach ihn an, wobei er so lallte, dass nicht eine Silbe zu verstehen war.

      Aber Ducrau sah ihn. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Er dachte nach. Bestimmt kramte er in seinem Gedächtnis.

      »Gehen Sie weiter!«, fuhr der Arzt Gassin an und schob ihn so heftig beiseite, dass der Betrunkene hinfiel und seine Flasche zerbrach. Stöhnend und fluchend blieb er liegen und bemühte sich, seine Tochter, die sich über ihn beugte, wegzuscheuchen.

      Wieder hielt ein Auto auf dem Quai, und eine neue Gruppe versammelte sich um den Polizeikommissar.

      »Kann man ihn vernehmen?«

      »Sie können es jedenfalls versuchen.«

      »Glauben Sie, dass er davonkommen wird?«

      Émile Ducrau antwortete selbst mit einem Lächeln. Es war ein seltsames, noch vages Lächeln, fast wie eine Grimasse, aber es bezog sich zweifellos auf die Frage.

      Der Kommissar grüßte ihn, etwas verwirrt, indem er seinen Hut zog.

      »Ich freue mich zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht.«

      Es war unpraktisch, so von oben herab mit einem Mann zu sprechen, dessen Gesicht dem Himmel zugekehrt war und an dem sich die Helfer unablässig zu schaffen machten.

      »Sind Sie überfallen worden? War es weit von hier? Wissen Sie, wo genau man auf sie eingestochen und Sie dann ins Wasser geworfen hat?«

      Der Mund spuckte immer noch stoßweise Wasser aus. Émile Ducrau beeilte sich nicht mit der Antwort, er versuchte nicht einmal zu sprechen. Er drehte den Kopf ein wenig, weil die junge Frau im weißen Nachthemd in sein Blickfeld geriet, und folgte ihr mit den Augen bis zum Steg.

      Sie ging, begleitet von einer Nachbarin, um für ihren Vater, der sich nicht ins Bett bringen lassen wollte, Kaffee zu kochen.

      »Erinnern Sie sich, was geschehen ist?«

      Und da er immer noch nicht antwortete, nahm der Kommissar den Arzt beiseite:

      »Glauben Sie, dass er mich versteht?«

      »Davon kann man ausgehen.«

      »Und doch …«

      Sie wandten Ducrau den Rücken zu. Zu ihrer Verblüffung hörten sie plötzlich seine Stimme.

      »Ihr tut mir weh …«

      Alle Blicke richteten sich auf ihn. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Mühsam einen Arm bewegend, stammelte er:

      »Will nach Hause …«

      Was die Hand zu zeigen versuchte, war das sechsstöckige Haus hinter ihm. Der Kommissar war verstimmt und unschlüssig.

      »Entschuldigen Sie, wenn ich darauf bestehe, aber es ist meine Pflicht. Haben Sie Ihre Angreifer gesehen? Haben Sie sie erkannt? Vielleicht sind sie nicht weit gekommen …«

      Ihre Blicke trafen sich. Émile Ducrau wich nicht aus. Und doch antwortete er nicht.

      »Es wird Ermittlungen geben, und die Staatsanwaltschaft wird mich bestimmt fragen, ob …«

      Ganz überraschend kam Leben in diesen schlaffen Körper, der dort auf den hellen Pflastersteinen des Verladequais lag. Der Mann stieß alles weg, was ihn störte.

      »Nach Hause!«, wiederholte er wütend.

      Es war zu spüren, dass er, wenn man ihn weiter behinderte, toben und vielleicht sogar genügend Kraft gewinnen würde, um aufzustehen und sich auf die Menge zu stürzen.

      »Vorsicht«, rief der Arzt, »Ihre Wunde kann anfangen zu bluten.«

      Aber das scherte den stiernackigen Mann wenig. Er hatte es plötzlich satt, inmitten von Schaulustigen auf dem Boden zu liegen.

      »Also gut, bringt ihn nach Hause«, seufzte der Kommissar ergeben.

      Man hatte von der Schleuse Nr. 1 die Tragbahre geholt. Aber von einer Bahre wollte Ducrau nichts wissen. Er schimpfte. Man musste ihn an Armen, Beinen und Schultern festhalten. Als er davongetragen wurde, sah er die Umstehenden zornig an, und sie traten zur Seite, denn sie hatten Angst vor ihm.

      Der kleine Zug hatte gerade die Straße überquert, als der Kommissar ihn anhielt.

      »Einen Augenblick. Ich muss erst seine Frau benachrichtigen.«

      Er klingelte, während die Träger unter der grünen Gaslampe stehen blieben, wo sich die Haltestelle der Busse und Straßenbahnen befand.

      Währenddessen hatten ein paar Schiffer große Mühe, den alten Gassin, der sturzbetrunken war und sich zudem an einer Scherbe die Hand verletzt hatte, über den Steg hinauf zur Toison d’Or zu bringen.

      2

      Am übernächsten Tag stieg Kommissar Maigret an der Haltestelle gegenüber den beiden Bistros aus der Straßenbahn der Linie 13. Es war zehn Uhr morgens, blendend hell und sehr laut. Maigret blieb eine Weile stirnrunzelnd auf dem Gehweg stehen, während sich weiße Zementlaster zwischen ihn und den Kanal schoben.

      Er hatte die Vertreter der Staatsanwaltschaft nicht begleitet, und er kannte den Ort des Geschehens wie überhaupt den ganzen Fall nur theoretisch. Auf dem kleinen Plan, den man für ihn gezeichnet hatte, sah alles ganz einfach aus: rechts der Kanal mit der Schleuse und Gassins Schiff am Verladequai, links die beiden Bistros, das hohe Haus und ganz hinten das kleine Tanzlokal.

      Vielleicht war das alles zutreffend, aber es fehlte das ganze lebendige Drumherum. So befanden sich zum Beispiel allein fünfzig Schiffe im Hafenbecken vor der Schleuse, die einen lagen am Quai, die anderen waren aneinander festgemacht, und wieder andere bewegten sich langsam in der Sonne. Und auf der Straße herrschten Gewimmel und ein Mordslärm, verursacht vor allem von den schweren Lastwagen.

      Doch die Seele der Umgebung lag woanders, oder jedenfalls ihr Herz, dessen Schläge der Luft den Rhythmus gaben: Am Ufer ragte ein merkwürdiger Apparat in die Höhe, ein eiserner Turm, der bei Nacht vermutlich nichts als ein grauer Fleck war, bei Tag aber aus jeder Nut, jedem Holm und jedem Riemen einen Höllenlärm von sich gab. Er zermalmte Steine. Krachend fielen sie auf


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