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Covid-19-Krise ist ein guter Indikator für die Frage des Überlebens – im unmittelbaren Sinne. Man kann hier die unterschiedlichen Ergebnisse solcher institutioneller Überlebensarrangements in unterschiedlichen sozialpolitischen Regimes besichtigen – der eklatante Unterschied der Auswirkungen der gegenwärtigen Krise in den Vereinigten Staaten und etwa in Deutschland liegt nicht nur an den politischen Akteuren, sondern vor allem daran, wie unterschiedlich in den beiden Ländern so etwas wie ein Kontinuitätsmanagement des Überlebens ermöglicht wird. In Deutschland zahlt sich der stabile Sozialstaat ebenso aus wie eine robuste Förderpolitik für bestimmte Branchen. Das weitgehend frei zugängliche Gesundheitssystem und das Kurzarbeitergeld sind zwei Beispiele für die auch kurzfristige Bearbeitung von Diskontinuitäten zur Aufrechterhaltung von Strukturen – von unternehmerischen Strukturen ebenso wie von Strukturen zur Herstellung persönlicher Kontinuität. Die Unterschiede sind hier eklatant. Das US-Modell mit einer kaum wirksamen Sozialpolitik und einer für viele unzugänglichen medizinischen Versorgung trotz der wohl weltweit besten Hochleistungsmedizin stellt Überlebensbedingungen in Krisensituationen schlicht infrage. Zugleich erzeugt ein solches Arrangement eine deutliche strukturelle Ausgrenzung wohldefinierter Gruppen aus den Leistungsbereichen des Bildungs- und des Medizinsystems, aber auch im Hinblick auf ökonomische Sicherheit und Sicherheit für Leib und Leben.
An der Covid-19-Krise lässt sich jedenfalls die Fragilität gesellschaftlicher Überlebensarrangements gut ablesen – und damit ist nicht nur die medizinische Überlebensfrage gemeint. Wie sehr die Kontinuität unseres Lebens und ihrer erwartbaren Strukturen von vielfältigen und komplexen Bedingungen und Regelkreisen abhängig ist, lässt sich daran beobachten, wie schnell ökonomisch stabile Strukturen und mit ihnen Arbeitsplätze verschwinden, wenn der cashflow nur für kurze Zeit unterbrochen wird, wie sehr der cashflow davon abhängig ist, dass man als Kunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann, wie selbst einfache Produktionsketten davon abhängig sind, dass Zulieferung aus anderen Regionen und Ländern sichergestellt ist, wie sehr die Geschlechtergleichheit davon abhängig ist, dass Kinderbetreuungseinrichtungen geöffnet haben und wie sehr deren Öffnungszeiten von der Kontakthäufigkeit der Kinder und des Betreuungspersonals an anderen Orten abhängig sind. Man sieht in der Krise, wie die Familie als Kontinuitätsraum von der Diskontinuität der Kontakte ihres Personals abhängig ist, um nicht überlastet zu werden. Und man lernt, wie radikal die Unterbrechung von Bildungsprozessen Aufmerksamkeit erzeugt. Wir lernen in der Krise, wie existenziell wichtig zum Teil schlecht bezahlte Berufe im Einzelhandel, in der Krankenpflege und in der Müllabfuhr für die Kontinuität des Alltagslebens sind. Und wir werden sichtbar darauf aufmerksam gemacht, wie sehr private Versorgungs- und Pflegeleistungen geradezu Bedingung der Möglichkeit einer funktionierenden Lebensform sind. Wir lernen sogar, dass der sinnlose Konsum von Dingen, die niemand braucht, von der Wirtschaft gebraucht wird, um jene Kontinuität von Geldfluss herzustellen, der auch kontinuierliche Lebensformen zumindest für die erzeugt, die nicht über hohe Vermögen verfügen. Und wir lernen, wie abhängig wir von Infrastrukturen der Energie-, Geld-, Wasser-, Arzneimittel- und der Nahrungsmittelversorgung sind. Zugleich erleben wir, wie schwer jene Umstellung unserer Lebensform zu bewerkstelligen ist, die für die Bewältigung etwa des Klimawandels notwendig ist, ohne die Interdependenzen jener fragilen Wechselwirkungen infrage zu stellen. Die Krise lässt jedenfalls diese Grundfrage der gesellschaftlichen Moderne sehr sichtbar werden: Passen wir überhaupt in diese Welt? Die Antwort lautet streng genommen: Nein. Das wussten offensichtlich schon die Romantiker und die Gegenaufklärer vor 200 Jahren.
Anmerkungen
1 Zur philosophischen Frühromantik vgl. Manfred Frank: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main 1998.
2 Vgl. Joseph de Maistre: Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag. Berlin 2016, S. 8.
3 Vgl. Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Berlin 2013.
4 Vgl. dazu Hans Rosling: Factfulness. Berlin 2018.
5 Vgl. dazu Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, 3. Aufl. Hamburg 2019, S. 106 ff.
6 Vgl. Martin Kohli: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 1–29; ders.: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Ein Blick zurück und nach vorne«, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Opladen 2003, S. 525–546.
7 Vgl. John W. Meyer: »The Self and the Life Course. Institutionalization and its Effects«, in: A. Sorensen et al. (eds.): Human Developement and the Life Course. Hillsdale 1986, S. 199–216.
8 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 1983.
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