Philosophie des Todes. Héctor WittwerЧитать онлайн книгу.
zu einer anders gearteten Existenz. Wie diese Fortexistenz nach dem Tod beschaffen ist, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander. Manche Völker glaubten, dass die Verstorbenen in derselben Welt wie sie als unsichtbare Seelen weiterexistierten. Verbreitet war auch der Glaube, dass die Toten in einer eigenen, jenseitigen Welt wohnten, zum Beispiel in den ewigen Jagdgründen oder in der Unterwelt. In den Mythen der alten Griechen hieß diese Welt der Toten »Hades«. Folgt man hingegen dem Buddhismus und Hinduismus, dann trennt sich im Moment des Todes die Seele vom Körper, um erneut in den Kreislauf der Wiedergeburten einzugehen. Im Christentum wird angenommen, dass der Tod nur das vorläufige Ende des Lebens ist. Am Tag des Jüngsten Gerichts werden die Toten auferstehen. So lautet zumindest noch heute die offizielle katholische Lehre.
Diesen mythischen und religiösen Todesvorstellungen, in denen der Tod als ein Übergang von einer Existenzweise in eine andere verstanden wird, kann man den [14]naturalistisch-biologischen Begriff des Todes gegenüberstellen, der in der Gegenwart immer mehr Anhänger findet. Wie jedes andere Todesverständnis auch, setzt die naturwissenschaftliche Definition des Todes einen bestimmten Begriff des Lebens voraus. Es herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Leben der Prozess ist, in dem sich bestimmte organische Körper mittels der sogenannten Lebensfunktionen (Vitalfunktionen) selbst organisieren und erhalten. Welche und wie viele dieser Funktionen es gibt, hängt vom Grad der Komplexität der jeweiligen biologischen Art ab. Der menschliche Organismus verfügt über fünf Vitalfunktionen: die Steuerung durch das Zentralnervensystem, den Blutkreislauf, die Atmung, den Stoffwechsel und die Temperaturregulation. Diesen fünf Funktionen entsprechen bestimmte Organe oder Organsysteme, so etwa die Lunge der Atmung. Gelegentlich wird heute das Bewusstsein als sechste Lebensfunktion hinzugezählt.
Wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass Leben nichts anderes ist als die Selbstorganisation und Selbsterhaltung eines Organismus mittels der genannten Funktionen, dann lässt sich der Tod als der irreversible Ausfall der Lebensfunktionen definieren, durch den bewirkt wird, dass die Selbstorganisation des Organismus an ihr Ende gelangt. Diese Definition bedarf einiger klärender Zusätze. Zunächst muss das Ereignis des Todes vom Prozess des Sterbens unterschieden werden. »Sterben« bezeichnet den allmählichen oder plötzlichen Ausfall der Lebensfunktionen. Im Unterschied zum Tod, der die Grenze zwischen dem Leben und dem Totsein darstellt, bildet das Sterben einen Teil des Lebens, der zumindest partiell auch bewusst erlebt werden kann. Mediziner unterscheiden heute zwei [15]Phasen des Sterbens. In der ersten Phase kann der Ausfall bestimmter Lebensfunktionen noch durch medizinische Eingriffe rückgängig gemacht werden. Beispiele für solche Eingriffe sind die Herzdruckmassage und die Beatmung von Mund zu Mund. In der zweiten Sterbephase ist der Ausfall der Vitalfunktionen hingegen irreversibel.
Für ein angemessenes Verständnis der naturalistischen Todesauffassung sind zwei weitere Präzisierungen unabdingbar. Bei den biologischen Definitionen des Lebens und des Todes handelt es sich um funktionale, auf den ganzen Organismus bezogene Begriffsbestimmungen. Funktional sind sie, weil Leben und Tod nur durch Bezug auf bestimmte Leistungen eines Lebewesens definiert werden. Im Gegensatz zu substanzialistischen Definitionen sind die funktionalen Begriffe von Leben und Tod damit vereinbar, dass viele Bestandteile des Organismus, beispielsweise Zellen oder Haare, im Verlauf der Zeit erneuert werden. Ausschlaggebend für die Lebendigkeit ist nicht die Identität des organischen Materials, sondern allein der Vollzug bestimmter Funktionen. Außerdem sind die funktionalen Begriffe auf den Organismus als ein Ganzes bezogen, nicht auf alle seine Teile. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat dieses Verständnis des Todes folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »Der Tod eines Menschen ist – wie der Tod eines jeden Lebewesens – sein Ende als Organismus in seiner funktionellen Ganzheit, nicht erst der Tod aller Teile des Körpers. […] Der Organismus ist tot, wenn die Einzelfunktionen seiner Organe und Systeme sowie ihre Wechselwirkung unwiderruflich nicht mehr zur übergeordneten Einheit des Lebewesens in seiner funktionellen Ganzheit zusammengefaßt und unwiderruflich [16]nicht mehr von ihr gesteuert werden.«3 Die Fähigkeit des Organismus, seine Bestandteile zu einem funktionellen Ganzen zusammenzufassen, wird manchmal auch als Fähigkeit der funktionalen Integration bezeichnet. Mit dem Ausdruck, dass der Organismus seine Bestandteile in ein Ganzes integriert, ist gemeint, dass alle Organe dazu beitragen, dass das Lebewesen als Ganzes erhalten wird und dass es sich als eigenständige Ganzheit in seiner Umwelt verhalten kann. Die Erhaltung des Ganzen sichert ihrerseits den Fortbestand der Teile.
Die Unterscheidung zwischen dem Tod des Organismus als eines Ganzen und dem seiner Teile ist von Bedeutung, weil beide nicht notwendigerweise zugleich eintreten: Ein Organismus kann sich als ein Ganzes erhalten, obwohl einzelne seiner Teile abgestorben sind. Andererseits können nach dem sogenannten Ganztod eines Organismus einige seiner Teile noch eine Zeit lang weiterleben. Das bedeutet, dass der Tod des Organismus als eines Ganzen eintreten kann, bevor alle seine Bestandteile abgestorben sind. In der Diskussion des Hirntodkriteriums werde ich auf den wichtigen Unterschied zwischen Ganztod und Partialtod zurückkommen.
Auf den ersten Blick scheint sich die biologische Auffassung des Todes neutral gegenüber der Frage zu verhalten, ob es eine Fortexistenz nach dem Tod gibt, weil sie keine Aussagen über die Zeit nach dem Tod impliziert. Warum sie dennoch im Gegensatz zu den Jenseitsvorstellungen steht, wird daran deutlich, dass sie oft mit der These einhergeht, alle bewussten Tätigkeiten setzten das Funktionieren des Gehirns als eines Teils des Zentralnervensystems voraus. Wenn nämlich erstens die Gehirntätigkeit [17]eine notwendige Bedingung aller seelischen und geistigen Akte ist und wenn zweitens der Tod durch die Beendigung der Lebensfunktionen einschließlich der Funktion des Zentralnervensystems charakterisiert ist, dann ist es unmöglich, dass die Seele des Menschen seinen Tod überlebt.
Historisch betrachtet, war die naturwissenschaftliche Auffassung des Todes bedeutend weniger verbreitet als mythische und religiöse Todesvorstellungen. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle der Tod nicht als vollständiges Ende des Lebens, sondern als Übergang in eine anders geartete Existenz begriffen wurde.4 Aus dieser Feststellung können zwei wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden. Erstens scheint es bei vielen Menschen in unterschiedlichen Kulturen ein starkes Bedürfnis nach einer Fortexistenz nach dem Tod zu geben. Dieses Bedürfnis beruht wiederum auf der weit verbreiteten Furcht davor, dass das Leben vollständig enden könnte. Zweitens stellt das biologische Todesverständnis, das der modernen Medizin und auch den heute geltenden rechtlichen Regelungen von Sterben und Tod zugrunde liegt, historisch betrachtet, bislang eine seltene Ausnahme dar.
In welchem Verhältnis steht nun das philosophische Verständnis des Todes zu den mythischen und religiösen Todesvorstellungen einerseits und zu der biologischen Todesdefinition andererseits? – Diese Frage kann aus einem einfachen Grund nicht in einem Satz beantwortet werden: Es gibt kein einheitliches philosophisches Verständnis des Todes. Wie das Ende des Lebens philosophisch gedeutet wird, hängt vor allem davon ab, ob eine dualistische oder eine monistische Anthropologie zugrunde gelegt wird. Weil [18]Dualisten davon ausgehen, dass die Seele eine eigenständige Substanz ist, die auch unabhängig vom Körper existieren kann, neigen sie zu der Auffassung, dass der Tod des menschlichen Leibes nicht das vollständige Ende des Lebens ist. Darin stimmen sie mit den mythischen und religiösen Todesvorstellungen überein. Allerdings unterscheiden sich die philosophischen Lehren von der Unsterblichkeit darin vom Glauben an eine Fortexistenz, dass sie durch Argumente gestützt werden. Auf die wichtigsten dieser Begründungen werde ich später eingehen (vgl. das Unterkapitel »Das Problem der Unsterblichkeit der Seele«). Aus einer monistischen Anthropologie ergibt sich hingegen zwingend, dass das Leben eines Menschen mit seinem Tod endgültig und vollständig endet. Diese Lehre wurde bereits in der Antike von den sogenannten Atomisten vertreten. In der Gegenwart stellt sie die herrschende philosophische Auffassung des Todes dar. Wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, handelt es sich allerdings bei der biologisch-medizinischen Bestimmung des Todes nicht um eine einheitliche Auffassung; umstritten ist vielmehr, anhand welchen Kriteriums der Tod festgestellt werden kann.
Der Unterschied zwischen der monistischen und der dualistischen Anthropologie ist nicht nur für die Definition des Begriffs »Tod« von Bedeutung. Auch andere philosophische Fragen, die mit dem Tod zusammenhängen, wird man unterschiedlich beantworten, je nachdem ob man den Menschen als ein aus Leib und Seele zusammengesetztes