Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
führte Torsten ins Haus.
Die Halle mit ihren vielen echten Teppichen, den riesigen Wandgemälden und den schweren Brokatvorhängen wirkte düster. Da kam auch schon ein älteres Fräulein mit grauem, straff zurückgenommenem Haar und strengem bleichem Gesicht.
»Miss Scott ist Engländerin und wird dich vorbildlich betreuen. Sie wird fast ausschließlich Englisch mit dir reden, was du vielleicht anfänglich nicht ganz verstehen wirst. Aber dann wird es dir doch großen Spaß machen. Du wirst schon sehen.« Johannes Ertel klopfte Torsten so kräftig auf die Schulter, dass der Kleine in die Knie ging. Trotzdem wurde er zu Miss Scott geschoben, die ihn eingehend musterte.
»Ein bisschen blass und dünn ist er, aber das gibt sich. Wir werden künftig morgens und abends Porridge essen.« Miss Scott leckte sich genussvoll die Lippen.
»Was ist das?«, fragte Torsten. Ängstlich schaute er zu den Großen empor. Alles hier war ihm fremd. Dieses große düstere Haus, die hagere Engländerin und der korpulente Mann.
»Das werde ich dir gleich zeigen, my dear.« Die Frau mit dem strengen Blick nahm Torsten an die Hand und zerrte ihn hinter sich her ins Speisezimmer. »Es ist sehr gut, dass mich dein Vormund schon am Vormittag eingestellt hat. Auf diese Weise verlieren wir überhaupt keine Zeit. Wir werden gleich nach dem Essen mit der ersten Lektion beginnen.«
Torsten hätte gern gefragt, was ein Vormund war und was die Engländerin mit Lektion meinte, doch der Anblick des großen mit eleganten dunklen Möbeln ausgestatteten Speisezimmers ließ ihn verstummen. Der Tisch war lang und wuchtig, die Stühle hoch und steif. Nirgends gab es eine freundliche Auflockerung, nirgends ein paar frische Blumen.
Wie anders war dies doch in Sophienlust. Dort war alles hell und freundlich. Dort strahlte jeder Raum Heiterkeit und Gemütlichkeit aus. Obwohl Torsten noch nicht richtig begriffen hatte, was eigentlich mit ihm geschah, ahnte er doch, dass er ein Paradies verloren hatte.
Miss Scott nahm am oberen Ende des langen Tisches Platz und klingelte nach dem Hausmädchen. Das zweite Gedeck war am unteren Ende des Tisches aufgelegt.
»Was ist, worauf wartest du?« Die spindeldürre Engländerin zeigte auf den hohen Stuhl mit der überlangen Lehne.
Folgsam kletterte Torsten hinauf. Da seine Füße nicht bis zum Boden reichten, baumelte er mit den Beinen. »Willst du wohl still sitzen?« Drohend hob die Erzieherin den Zeigefinger.
Da wurde auch schon das Porridge gebracht, das sie selbst zuvor in der Küche zubereitet hatte. Es bestand aus gesüßten Haferflocken und Milch.
Gerade darauf aber hatte Torsten überhaupt keinen Appetit. Sehnsüchtig dachte er an den Abendbrottisch in Sophienlust, auf dem es stets für jedes Kind etwas gab, was es gern aß. Dort waren die Platten bunt und fröhlich angerichtet. Hier war alles grau und düster.
Torsten nahm den Löffel zur Hand und kostete. Er fand, das Porridge schmeckte noch mieser, als es aussah. Traurig ließ er das Köpfchen hängen.
»Willst du wohl gerade sitzen«, rügte die strenge Erzieherin sofort. »Haltung ist das, was du zuerst lernen musst.«
Torsten richtete sich auf, doch seine Augen füllten sich mit Tränen.
Auch das entdeckte Miss Scott sofort. »Bist du eigentlich ein Junge oder eine Heulsuse?«, fragte sie spöttisch. »Du solltest dich schämen.«
Am liebsten wäre Torsten weggerannt. Doch wohin sollte er? Erstens kannte er sich in dem großen luxuriösen Haus nicht aus, und zum anderen hätte er bei Johannes Ertel, der sich wohl nebenan im Arbeitszimmer aufhielt, ganz bestimmt keine Unterstützung gefunden.
»Bitte, iss jetzt!«, kommandierte die strenge Erzieherin.
Gehorsam nahm Torsten den Löffel zur Hand und führte ihn zum Mund. Doch der Geruch der Speise schreckte ihn ab. Ihm wurde ganz schlecht. Mutlos ließ er den Arm wieder sinken.
»Du isst das, ganz gleich, wie lange du davor sitzt! Je eher dein Teller leer ist, um so rascher kann ich dir dein Zimmer zeigen.« Schrill und laut war die Stimme der Engländerin.
Torsten presste die Lippen fest zusammen, um nicht wieder zu weinen. Noch nie war er so hart angefasst, noch nie so rücksichtslos behandelt worden. Zu Hause hatte man ihn mit Liebe und Nachsicht umgeben, in Sophienlust hatte man ihn verständnisvoll und freundlich behandelt. Dort, in der großen Gemeinschaft der anderen Kinder, hatte er gar nicht gefühlt, dass er nicht zu Hause war. Doch hier kam ihm das alles erst richtig zu Bewusstsein. Er war allein. Allein unter feindseligen Erwachsenen. Tanja war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der noch zu ihm gehörte. Warum war Tanja nicht bei ihm? Erst jetzt begriff Torsten, dass man ihn von der Schwester getrennt hatte.
»Warum ist Tanja nicht mitgekommen?«, stieß der Junge heftig hervor.
Die Erzieherin, die ihren Teller schon fast geleert hatte, sah das Kind strafend an. »Bei Tisch spricht man nur, wenn man gefragt wird. Eigentlich solltest du das schon wissen. Ich sehe, dass es eine Menge Arbeit für mich sein wird, einen wohlerzogenen Jungen aus dir zu machen.«
Diesmal konnte die Engländerin mit ihrem Vortrag keinen Eindruck auf Torsten machen. Er hörte ihr überhaupt nicht zu. Lebhaft erinnerte er sich an die Worte, die seine Mami ihm zum Abschied ins Ohr geflüstert hatte: »Pass gut auf Tanja auf!« Bisher hatte er diese Bitte sehr ernst genommen. Er war kaum von der Seite der jüngeren Schwester gewichen. Doch wie sollte er jetzt auf Tanja achten, da er gar nicht mehr in ihrer Nähe sein durfte?
»Ich will zu Tanja!«, forderte Torsten laut und temperamentvoll.
»Was ist das für ein Benehmen?«, empörte sich die Erzieherin. »Ich werde dir eine Strafe nicht ersparen können.«
Das war Torsten vollkommen gleichgültig.
»Tanja ist meine Schwester, und Mami hat gesagt, dass ich sie nicht allein lassen darf.« Finster sah Torsten auf die hagere Engländerin.
»Du kannst diese Fragen später mit deinem Onkel erörtern. Jetzt hast du zunächst deinen Teller leer zu essen, und zwar ruhig und gesittet.«
»Ich will aber gleich zu Tanja.« Torsten rutschte vom Stuhl. Die angedrohte Strafe konnte ihn nicht schrecken. Noch bevor Miss Scott es verhindern konnte, rannte er aus dem düsteren Speisezimmer hinaus in die Halle.
Dort sah Torsten sich zuerst einmal um. Er kannte sich noch viel zu wenig aus, um sofort zu wissen, in welche Richtung er laufen musste. Doch da hatte ihn seine Betreuerin auch schon eingeholt. Unsanft hielt sie ihn am linken Ohr fest.
»Deine Ungezogenheit kennt wohl keine Grenzen!« Die Engländerin streckte die Hand aus und hätte Torsten wohl am liebsten eine schallende Ohrfeige gegeben. »Du wirst zur Strafe sofort ins Bett gehen. Ohne Abendessen und ohne die versprochene erste Englischlektion.«
Wenn Miss Scott geglaubt hatte, dass dies Eindruck auf den Siebenjährigen machen könnte, so hatte sie sich gründlich getäuscht.
»Ich muss zu Tanja«, kreischte der Junge so laut, wie er nur konnte.
*
Alexander von Schoenecker ließ die Zeitung sinken, als Nick den großen Wohnraum betrat.
»Du willst sicher zu Mutti. Sie bringt gerade Henrik zu Bett. Bestimmt ist sie gleich wieder hier.« Der hochgewachsene kräftige Mann sah voll Stolz auf den Sohn, den Denise mit in die Ehe gebracht hatte. Nick war ein famoser Bursche. Es machte richtig Spaß, seine Entwicklung zu verfolgen.
»Nein«, murmelte der Junge zerknirscht, »ich möchte zu dir. Mutti ist verärgert und spricht nicht mehr mit mir.«
Alexander zog die dichten Augenbrauen hoch. Sein sonnengebräuntes Gesicht drückte Verwunderung aus. »Was hast du denn angestellt?«
»Etwas ganz Schlimmes«, bekannte Nick und senkte schuldbewusst den Kopf. »Mutti weiß es noch gar nicht.«
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Komm, setz dich ein wenig zu mir, dann reden wir über alles.« Alexander deutete auf den gemütlichen Sessel neben ihm.
Nick