Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Jetzt kam auch schon die Frage von Evi: »Wohin fahren wir? Warum fährt Mami nicht mit? Wo ist sie?«
Evi war der Anblick ihrer toten Mutter erspart geblieben. Während Betti diese identifiziert hatte, war Evi bei der freundlichen Krankenschwester geblieben. Nun wusste Evi nicht, wo ihre Mutter war.
»Ach, Evi, mein Kleines …« Betti konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. »Irgendwann musst du es ja doch erfahren. Deine Mutti …«
»Ist sie mit dem Rettungsauto ins Krankenhaus gebracht worden? Die Leute auf dem Bahnhof haben gesagt, dass alle, die verletzt wurden, ins Krankenhaus gebracht wurden«, sagte Evi, die nun neben Betti im Fond des Wagens saß.
»Nein«, schluchzte Betti und rang gleichzeitig um Beherrschung. »Nein, deiner Mutter konnte der Arzt nicht mehr helfen. Sie ist …, sie ist … tot«, hauchte Betti.
»Tot?«, wiederholte Evi tonlos. Sie verstand nicht recht die Bedeutung dieses Wortes, fühlte aber, dass etwas ganz Furchtbares dahintersteckte.
Andrea hingegen verriss vor Schreck den Wagen. Sie trat auf die Bremse, fuhr aber dann weiter. Sie hatte sich entschlossen, sich nicht einzumischen. Am Abend würde Zeit genug sein, mit Betti zu reden.
»Tot?«, fragte Evi ein zweites Mal. »Ist sie nun fort? Kommt sie nicht mehr?«
»Deine Mami ist im Himmel«, sagte Betti leise.
»Aber dann werde ich sie nie mehr sehen …« Langsam begriff Evi die Wahrheit.
Betti drückte das Kind fest an sich. »Ich bin bei dir«, flüsterte sie ihm dabei zu.
Evi war von dem, was sie soeben erfahren hatte, vollkommen betäubt. Sie saß wie zu Stein erstarrt im Auto und rührte sich nicht. Auch Betti schwieg. Sie wusste nicht, wie sie das Kind trösten sollte. Der Verlust war zu schwer. Es gab keinen Trost.
Andrea fand ebenfalls keine Worte. Sie verstand nun, was Betti veranlasst hatte, sich um das verwaiste Kind zu kümmern. Aber halt – bisher war ja nur von der Mutter die Rede gewesen. Das Kind musste ja auch einen Vater besitzen, und dieser würde es sicher bald holen.
Endlich waren sie in Bachenau vor dem Haus der Familie von Lehn angekommen. Andrea hob Evi aus dem Auto und war dann auch Betti, die auf die Wunde an ihrem Schienbein achten musste, beim Aussteigen behilflich.
Evi stand regungslos da und schien ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Betti sah Andrea hilflos an.
»Zuallererst bringen wir das Kind zu Bett«, beschloss Andrea. »Und dann rufen Sie Frau Dr. Frey an, damit sie herkommt und sich Evi einmal ansieht.«
»Ja«, meine Betti. »Es war zu viel für die arme Kleine. Ich hätte ihr die Wahrheit verheimlichen sollen.«
»Das hätte nichts genützt«, erwiderte Andrea. »Früher oder später musste sie sie ja doch erfahren.«
Andrea wollte Evi in einem der Gästezimmer unterbringen, aber Betti erhob dagegen Einspruch.
»Nein, ich bringe es nicht übers Herz, das Kind auch nur für kurze Zeit allein zu lassen«, sagte sie. »Könnte ich nicht in meinem Zimmer ein zusätzliches Bett aufstellen?«
»Ja, das ist eine gute Idee«, fand Andrea.
Evi sagte gar nichts. Willenlos ließ sie alles über sich ergehen. Sie protestierte nicht, als Andrea sie auszog und ins Bett steckte. Doch als Betti sagte: »So, jetzt versuche zu schlafen. Ich komme bald wieder«, streckte sie die Arme aus und bat: »Bitte, bleib bei mir. Ich fürchte mich so.«
Andrea nickte Betti zu und meinte: »Setzen sie sich an ihr Bett. Ich werde selbst mit Frau Dr. Frey sprechen und sie bitten, uns aufzusuchen.«
Evi hatte das Wort Doktor aufgeschnappt und wurde dadurch so weit aus ihrer Lethargie gerissen, dass sie protestierte: »Ich mag keinen Doktor. Der sticht mich mit einer langen Nadel und tut mir weh.«
»Frau Dr. Frey sticht dich bestimmt nicht«, widersprach Andrea. »Du wirst sehen, dass sie sehr lieb und gut ist. Du darfst Tante Doktor zu ihr sagen.«
Aber das war Evi gleichgültig. Sie drehte ihr Gesicht zur Wand und verfiel wieder in dumpfes Schweigen.
Auch als Frau Dr. Frey kam, änderte sich daran nichts. Die Ärztin wunderte sich darüber nicht, denn sie hatte schon am Telefon von Andrea gehört, was Evi zugestoßen war.
»Ich werde noch öfter kommen müssen, um das Kind zu behandeln«, teilte sie Andrea mit, nachdem sie Evi in Bettis Obhut zurückgelassen hatte.
»Hat Evi doch irgendeine Verletzung bei dem Zusammenstoß davongetragen?«, fragte Andrea erschrocken.
»Nein, das ist es nicht. Aber sie hat einen argen Schock erlitten. Es wird geraume Zeit dauern, bis sie ihn überwunden haben wird. Ich werde sie morgen wieder besuchen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich auch gleich um Bettis Schienbein kümmern. Es ist nicht notwendig, dass sie deshalb extra nach Maibach zum Krankenhaus fährt!«
Andrea dankte Frau Dr. Frey und fügte hinzu: »Ich weiß noch gar nicht, wie lange Evi bei uns bleiben wird. Einstweilen tappe ich noch völlig im Dunkeln, was die Familienverhältnisse der Kleinen betrifft.«
Auch das Gespräch, das Andrea mit Betti führte, nachdem Evi eingeschlafen war, brachte in dieser Hinsicht keine Aufklärung. Betti schilderte Andrea haargenau, wie sie Evi kennengelernt hatte, dass die Eltern geschieden seien und dass irgendwo ein Vater existierte. Genaues wusste sie natürlich nicht.
»Ein Jammer, dass das Kind nicht einmal seinen Familiennamen kennt«, meinte Andrea. »Mit dem Hinweis, dass es früher bei seinem Vater im Wald lebte, ist nichts anzufangen.«
»Nein«, gab Betti zu.
»Nun ja, morgen werden alle Zeitungen von dem Eisenbahnunglück berichten. Gewiss wird sich dann jemand melden, der Evi kennt.«
*
Doch die Zeit verging, und niemand meldete sich. Die Polizei stellte Nachforschungen an, aber diese blieben ergebnislos. Die Tote hatte auch keinerlei Papiere bei sich gehabt, die einen Hinweis auf ihre Identität hätte geben können. Und Evi war nach wie vor nicht imstande, ihren Zunamen anzugeben, obwohl es Frau Dr. Frey mit viel Geduld gelungen war, sie aus dem Zustand der Verkrampfung, in dem sie sich befunden hatte, zu lösen.
Andrea unternahm keinen Versuch, Betti dazu zu überreden, Evi nach Sophienlust zu geben. Das innige Verhältnis, das zwischen dem Hausmädchen und dem Kind bestand, rührte sie. Nachdem Evi den ersten Schock überwunden hatte, kam ihr eigentliches Wesen, das heiter und anschmiegsam war, voll zum Vorschein. Sie liebte es, sich mit dem kleinen Peter abzugeben und mit ihm zu spielen, sie war gegenüber Andrea und deren Mann, dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn, zutraulich, aber am liebsten hielt sie sich in Bettinas Nähe auf. Natürlich behinderte sie das Hausmädchen manchmal bei der Arbeit, doch weder Andrea noch Betti nahmen ihr das übel.
Ohne es sich eingestehen zu wollen, war Betti froh, dass sich noch niemand gemeldet hatte, der Anspruch auf das Kind erhob. Betti hatte Evi so gern, dass sie sich eine Trennung von ihr nicht vorstellen konnte. Und Evi schien im Begriff zu sein, Betti als Ersatz für ihre Mutter zu akzeptieren.
Andrea beobachtete dieses Verhältnis mit wachsender Besorgnis. Sie befürchtete, dass eines Tages doch noch Angehörige des Kindes auftauchen und Evi mitnehmen würden. Das würde sowohl für Betti als auch für Evi ein schwerer Schlag sein.
Deshalb entschloss sich Andrea eines Tages, Evi vorsichtig über ihr früheres Leben auszufragen. »Denkst du manchmal an deinen Vati?«, begann sie.
»O ja«, erwiderte Evi sehnsüchtig. »Es ist schade, dass er nicht hier bei uns ist. Oder ich bei ihm. Nein, dann wäre Betti nicht bei mir. Ich weiß nicht …« Evi war verwirrt.
»Von Betti habe ich gehört, dass dein Vati in einem Wald wohnt«, tastete Andrea sich weiter vor.
»Ja, das stimmt«, bekräftigte Evi.
»Und hat es keine größere Stadt in eurer