Die ersten Menschen im Mond. Herbert George WellsЧитать онлайн книгу.
Umriß seines unbeleuchteten Teils. Und wie ich dastand und zwischen meinen Füßen hindurch auf den Mond starrte, kehrte jene Empfindung des Unmöglichen, die mich schon seit unserm Aufstieg immer wieder befallen hatte, mit zehnfacher Überzeugung zurück.«
»Cavor«, sagte ich, »dies überrascht mich wunderlich. Diese Gesellschaften, die wir auftun wollten, und all das mit den Mineralien?«
»Ja?«
»Hier seh' ich sie nicht.«
»Nein,« sagte Cavor; »aber über all das werden Sie wegkommen.«
»Ich glaube, ich bin danach gemacht, wieder die rechte Seite nach oben zu tun. Aber dies – einen Moment könnte ich halb glauben, daß es niemals eine Welt gegeben hat.«
»Die Nummer von Lloyd's News könnte Ihnen vielleicht helfen.«
Ich starrte das Blatt einen Augenblick an; dann hielt ich es mir übers Gesicht und fand, daß ich es ganz leicht lesen konnte. Ich stieß auf eine Spalte armseliger kleiner Annoncen. »Ein Herr von privaten Mitteln ist bereit, Geld zu verleihen«, las ich. Den Herrn kannte ich. Dann wollte ein exzentrischer Mensch ein Bicycle, »ganz neu und fünfzehn Lire gekostet«, für fünf Pfund verkaufen; und eine Dame in Not wollte unter großem Opfer über einige Fischmesser und Gabeln, »ein Hochzeitsgeschenk«, verfügen. Ohne Zweifel untersuchte eine einfache Seele diese Messer und Gabeln verständig, ein anderer fuhr triumphierend auf jenem Fahrrad davon, und ein dritter fragte, noch während ich las, vertrauensvoll bei jenem wohlwollenden Herrn von Mitteln an. Ich lachte und ließ das Blatt aus den Händen schweben.
»Sind wir von der Erde aus zu sehen?« fragte ich.
»Warum?«
»Ich kannte jemanden, der sich ziemlich für Astronomie interessierte. Mir fiel ein, es wäre recht gelungen, wenn – mein Freund – zufällig gerade durch ein Teleskop blickte.«
»Es würde das mächtigste Teleskop der Erde dazu gehören, uns jetzt noch als winzigen Punkt zu sehen.«
Eine Zeitlang starrte ich schweigend auf den Mond.
»Es ist eine Welt!« sagte ich; »man fühlt das unendlich viel stärker als je auf der Erde. Vielleicht sind Menschen – –«
»Menschen!« rief er aus. »Nein! Verbannen Sie all das! Betrachten Sie sich als eine Art ultra-arktischen Reisenden, der die ödesten Orte des Raums erforscht. Sehen Sie hin!«
Er schwenkte die Hand nach der leuchtenden Weiße unten.
»Er ist tot – tot! Ungeheure, erloschene Vulkane, Lavawildnisse, übereinandergetürmte Schneewüsten, oder gefrorene Kohlensäure, oder gefrorene Luft, und überall Erdrutschrisse und Spalten und Abgründe. Nichts geschieht. Die Menschen haben diesen Planeten seit über zweihundert Jahren systematisch mit Teleskopen beobachtet. Was meinen Sie, wieviel Veränderung haben sie beobachtet?«
»Keine.«
»Sie haben zwei unbestreitbare Erdrutsche konstatiert, einen zweifelhaften Riß, und einen leichten periodischen Farbwechsel, und weiter nichts.«
»Ich wußte nicht einmal, daß das konstatiert ist.«
»O ja. Aber Menschen!«
»Nebenbei,« fragte ich, »wie kleine Dinge wird das größte Teleskop auf dem Monde zeigen?«
»Man würde eine mittelgroße Kirche sehen. Auf jeden Fall könnte man Städte oder Gebäude oder alles, was von Menschenhand stammte, sehen. Es könnten vielleicht Insekten vorhanden sein, etwas wie Ameisen zum Beispiel, die sich in tiefen Bauten vor der Mondnacht verbergen, oder irgendeine neue Art Geschöpfe, die keine irdische Parallele haben. Das ist das Wahrscheinlichste, wenn wir überhaupt Leben vorfinden sollten. Denken Sie an die Verschiedenheit der Bedingungen! Das Leben muß sich an einen Tag anpassen, der so lang ist wie vierzehn Erdentage, an eine wolkenlose Sonnenglut von vierzehn Tagen; und dann an eine Nacht von gleicher Länge, die unter diesen kalten, scharfen Sternen immer kälter und kälter wird. In dieser Nacht muß eine Kälte herrschen! die äußerste Kälte, das absolute Null, 273 Grad Celsius unter dem irdischen Gefrierpunkt. Was auch an Leben noch vorhanden ist, muß das durchwintern und jeden Tag wieder aufstehen.«
Er sann. »Man kann sich etwas Wurmartiges vorstellen,« sagte er, »etwas, was seine Luft in festem Zustand zu sich nimmt, wie ein Regenwurm Erde schluckt, oder dickhäutige Ungeheuer – –«
»Nebenbei,« sagte ich, »warum haben wir keine Flinte mitgenommen?«
Er beantwortete meine Frage nicht. »Nein,« schloß er, »wir haben eben einfach hinzugehen. Wir werden ja sehen, wenn wir da sind.«
Mir fiel etwas ein. »Natürlich bleiben meine Mineralien, auf jeden Fall,« sagte ich; »welches auch die Bedingungen sind.«
Bald darauf sagte er mir, er wünsche unsern Kurs ein wenig zu verändern, indem er die Erde einen Augenblick an uns ziehen lasse. Er wollte eine der Jalousien erdwärts auf dreißig Sekunden öffnen. Er warnte mich, mir würde der Kopf schwimmen, und er riet mir, die Hände gegen das Glas auszustrecken, um meinen Fall zu hemmen. Ich tat, wie er sagte, und stemmte die Füße gegen die Ballen der Nahrungskisten und luftdichten Zylinder, damit sie nicht auf mich stürzten. Dann sprang das Fenster mit einem Klinken auf. Ich fiel plump auf Hände und Gesicht und sah einen Moment lang unsere Mutter Erde zwischen meinen schwarzen, ausgespreizten Fingern – einen Planeten am Himmel unter mir.
Wir waren noch sehr nah – Cavor sagte mir, die Entfernung betrage vielleicht achthundert Meilen – und die riesige Erdscheibe füllte den ganzen Himmel. Aber schon war deutlich zu sehen, daß die Welt eine Kugel war. Das Land unter uns lag unbestimmt im Zwielicht, aber westlich leuchteten die ungeheuren grauen Flächen des Atlantischen Ozeans unter dem weichenden Tag wie geschmolzenes Silber. Ich glaube, ich erkannte die wolkenverdunkelten Küstenlinien von Frankreich und Spanien und Südengland, und dann schloß sich die Jalousie wieder mit einem Klinken, und ich merkte, wie ich in einem Zustand merkwürdiger Verwirrung langsam über das glatte Glas hinabglitt.
Als sich die Dinge schließlich in meinem Geist wieder beruhigten, schien es ganz außer Frage, daß der Mond »unten« war und unter meinen Füßen, und daß die Erde irgendwo fern auf der Fläche des Horizontes lag – die Erde, die mir vom Anfang der Dinge an »unten« und mit mir verwandt gewesen war!
So gering waren die von uns erforderten Anstrengungen, so leicht machte die praktische Vernichtung unseres Gewichtes alles, was wir zu tun hatten, daß uns fast sechs Stunden lang nach unserem Aufflug (nach Cavors Chronometer) nicht das Bedürfnis kam, eine Erfrischung zu nehmen. Ich war über die Zeit, die verlaufen war, verblüfft. Selbst da war ich mit sehr wenig befriedigt. Cavor untersuchte den Apparat zur Aufnahme von Kohlensäure und Wasser und sagte, er sei in genügender Ordnung, unser Verbrauch an Sauerstoff sei außerordentlich gering gewesen. Und da unser Gespräch vorläufig erschöpft war, wir auch weiter nichts zu tun hatten, so gaben wir einer sonderbaren Schläfrigkeit nach, die uns überfallen hatte, breiteten unsere Decken auf dem Boden der Sphäre in der Weise aus, daß sie den größten Teil des Mondscheins absperrten, wünschten einander gute Nacht und schliefen fast unmittelbar darauf ein.
Und so fielen wir, schlafend und bisweilen plaudernd und ein wenig lesend, hin und wieder auch essend, wenn auch ohne jede Schärfe des Appetits, [Fußnote] doch meistens in einer Art Ruhe, die weder Schlaf, noch Wachheit war, einen Zeitraum hindurch, der weder Tag noch Nacht einschloß, still, sanft und geschwind zum Mond hinunter.
6 Die Landung auf dem Mond
Ich erinnere mich, wie Cavor eines Tages plötzlich sechs unserer Läden öffnete und mich so blendete, daß ich ihn laut anschrie. Die ganze Fläche war Mond, ein stupender Krummsäbel weißen Tagesanbruchs, dessen Rand mit Scharten des Dunkels ausgezackt war, die halbmondförmige Küste einer ebbenden Flut der Dunkelheit, aus der Spitzen und Zinnen in den Glanz der Sonne emporgeklettert kamen. Ich nehme an, der Leser hat Bilder oder Photographien des Mondes gesehen, so daß ich die breiteren Züge jener Landschaft nicht schildern brauche: jene geräumigen, ringartigen Ketten, weiter als alle irdischen Gebirge, deren Gipfel