Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
vor, Bibliothekar von La Masion du Conseil und zuständig für die Einschätzung der neuen Magier. Ein kurzes Symbol in der Luft, ein Testzauber – und er wirkte beeindruckt.
»Außerordentlich, wenn auch bedenklich«, sprach er mit knisternder Pergamentstimme. »Die magische Kraft in dir ist ungemein stark. Aber auch ungeformt und roh. Du wurdest bereits vor langer Zeit zu einem Erben.«
»Sie wurde übersehen«, erklärte Rousele. »Ich fand sie auf dem Markt, gänzlich ohne das notwendige Wissen um unsere Gesellschaft und die Magie. Sie benötigt Führung.«
»Du hast dein Erbe vergessen, die Magie in dir schlief. Es kann zu abrupten Freisetzungen kommen, davor solltet ihr euch in Acht nehmen. Wut kann das begünstigen.« Er schenkte Ally erneut einen eindringlichen Blick. »Ich werde Präzedenzfälle hierzu studieren und ergänzende Lektüre bereitstellen.«
»Vortrefflich.« Rousele winkte Ally, ihr zu folgen.
»Das ging … schnell.«
»Ich wusste es gleich, als ich dich sah. Du bist stark. Zweifellos ist dir eine große Zukunft beschieden. Und ich habe dich entdeckt.«
»Wie kann ich alles über die Gesellschaft der Magier erfahren?«
»Das wird von ganz alleine geschehen«, erklärte Rousele. »In den nächsten Wochen und Monaten wirst du unterrichtet. Hier, in diesen Hallen der Magie.«
»Aber …«
Ally überdachte das Angebot. Die Apparatur war erst einmal sicher in den Katakomben untergebracht. Wenn sie endlich mehr darüber erfahren wollte, wer sie war, konnte sie hier auf jede Art von Wissen zugreifen.
»Was ist mit meinem Bruder?«, fragte sie. »Ohne ihn werde ich auf keinen Fall hierbleiben.«
»Die Hallen der Magie sind ihm verwehrt, das steht außer Frage«, erklärte Rousele. »Doch als Blutsverwandter darf er dich natürlich jederzeit besuchen. Da er niemanden hier kennt, werde ich ein Wort mit dem Stallmeister sprechen.«
»Du meinst … er soll Stallbursche werden?«
»Eine ehrliche Arbeit.«
Sie konnte sich Harry so gar nicht dabei vorstellen. Andererseits war er damit sicher, wurde bezahlt und sie hatten Zeit gewonnen. »Das wäre nett.«
»Dann betrachte das als erledigt.«
Es gefiel Ally nicht, dass gewöhnliche Menschen in dieser seltsamen Zeit als minderwertig angesehen wurden. Andererseits sah der Adel auch den Pöbel als genau das an. Und wohin es geführt hatte, wusste sie. Die Französische Revolution hatte die Herrschaft der Monarchie beendet. Auf blutige, bestialische Weise.
Doch wieso gab es keine Magier mehr in der Gegenwart des Jahres 1942? Diese hätten zweifellos einen so grauenvollen Krieg verhindert.
»Gibst du mir ein paar Minuten?«, fragte Ally.
»Aber natürlich.« Rousele blieb stehen und wandte sich dem Fenster zu.
»Wie ist es gelaufen?«, wollte Harry wissen und sprang auf.
Sie fasste das Treffen zusammen.
»Das ist fantastisch.« Ihr Bruder strahlte. »Das gibt mir Gelegenheit, diese Zeit zu studieren.«
»Im Stall«, sagte Ally.
Er winkte ab. »Immerhin fallen hier keine Bomben. Und sobald wir genug wissen, kehren wir zur Apparatur zurück. Ich habe mir überlegt … Vielleicht lässt sie sich ja beliebig nutzen.«
»Was meinst du?«
»Wir könnten auch andere Zeiten ansteuern«, sagte er vorsichtig. »Mama und Papa …«
Sie schluckte. »Ich stürze mich so schnell ich kann auf alle Informationen, die mir zugänglich sind.«
»Abgemacht. Und ich werde tun, was ein Stallbursche so tut. Vielleicht kannst du mir das eine oder andere Buch herausschmuggeln?«
»Ich gebe mein Bestes.«
Als Ally sich Rousele wieder zuwandte, stand ein anderer Mann neben dieser. Mathéo, der Stallmeister. Eindeutig nicht das, was sie bei einem Stallmeister erwartet hatte. Dichtes schwarzes Haar, blaue Augen und ein dreitägiger Bart ließen ihn wie einen Feldarbeiter erscheinen.
Einen sehr gut aussehenden Feldarbeiter.
Harry und Mathéo begrüßten sich und verschwanden kurz darauf, in ein Gespräch vertieft. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Bruder keine Dummheit beging. Wenigstens waren die Franzosen stets recht offen gewesen, wenn es um die Formen der körperlichen Liebe ging. War die Liebe zwischen Männern hier verboten? Wurde sie stillschweigend toleriert? Sie würde auf Harry achtgeben.
»Ich zeige dir deine Zimmer.«
»Mehrere?«
Rousele lachte. »Ich freue mich auf dein Gesicht.«
Vor Ally enthüllte sich eine neue Welt.
Heißes Wasser plätscherte aus chromierten Wasserhähnen, Bernsteine brachten es auf die perfekte Temperatur. Seife und Duschöle standen bereit, das Wasser sprudelte sogar.
Ally glitt seufzend tiefer in die Wanne.
Sie blickte hinaus auf das Laub der Bäume und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf ihrem Gesicht. In diesem Augenblick fiel erstmals gänzlich die Anspannung von ihr ab. Hier würden keine bewaffneten Soldaten durch die Tür stürmen, um ihnen Kugeln in den Leib zu jagen. Es bestand keine Gefahr, dass das gesamte Land von den Deutschen eingenommen wurde.
Hier war sie, wie es schien, etwas Besonderes.
Oder genauer: ihre Fähigkeiten waren es.
In dieser Gesellschaft wurde Magie genutzt, ja, sogar damit bezahlt. Plötzlich war sie aufgestiegen in neue Schichten, die ihr in England stets verwehrt geblieben waren.
Sie öffnete einen violetten Tiegel, tippte ihre Fingerspitzen hinein und massierte sich eine nach Apfel duftende Creme in die Haut. Es folgte golden schimmerndes Öl für das Haar. Nie zuvor hatte es so seidig geglänzt.
Lächelnd stieg sie aus der Wanne, hüllte sich in ein flauschiges Handtuch und vergrub ihre nackten Zehen in den Teppich. Langsam ging sie zum Bett, ließ sich mit einem wohligen Seufzer auf die Matratze fallen.
So mussten Könige sich fühlen.
Sie wollte über alles nachdenken, was geschehen war, doch innerhalb weniger Sekunden war sie eingeschlafen.
Der nächste Tag begann gemütlich. Croissants und Kaffee zum Frühstück – sie würde sich daran gewöhnen –, dann brachte Rousele sie zur Essenzstabmacherin.
Um diese zu erreichen, nutzten sie eine fliegende Kutsche, die sie in den Süden von Frankreich brachte, wo Ally in einem gewaltigen, schwebenden Gebäudekonstrukt über grünem Wald einen Essenzstab erhielt.
Eine dürre Frau namens Segolene, deren tiefbraune Haut von Runzeln durchzogen war, legte Ally Glaskugeln auf. Die einseitige runde Öffnung schloss dicht mit der Haut ab. Farbige Flammen tanzten darin, die Essenzstabmacherin sagte immer wieder »Hm, hm«, sonst nicht viel.
Sie kam zurück mit einem flachen Kästchen.
Ally öffnete es. Das Innere war mit Samt ausgelegt, ein Stab lag darauf, unterarmlang und verziert mit Symbolen. Ornamente aus Glas, Einsätze aus Bernstein.
Eine Berührung genügte und Ally spürte es: Die Verbindung war wie die zu etwas Vertrautem, das einfach dazugehörte.
Und damit begann ihr Unterricht.
Bereits nach den ersten drei Tagen rauchte ihr Schädel. Gleichzeitig fühlte sie sich wie ein Schwamm, der in den bisherigen Jahren seines Lebens vertrocknet gewesen war und jetzt all das aufnahm, was ihm bisher nicht vergönnt gewesen war.