David Copperfield. Charles DickensЧитать онлайн книгу.
der Bewohnerschaft in einer zweiten kleinen Kajüte am anderen Ende des Schiffes zu Bett ging, und wie er und Ham für sich zwei Hängematten an den früher erwähnten Haken im Deckbalken befestigte.
Während der Schlaf mich allmählich überwältigte, hörte ich draußen auf dem Meer den Wind so heulen und so gewaltig über die Einöde hinbrausen, dass mich halb im Traum die Furcht überkam, das Meer könnte während der Nacht das Land überfluten. Aber ich beruhigte mich damit, dass ich doch in einem Schiff wohnte, und dass Mr. Peggotty keine üble Person an Bord sei, wenn etwas geschehen sollte.
Aber es passierte nichts Schlimmeres, als dass der Morgen kam. Sobald er seine Strahlen auf den Austernschalenrahmen meines Spiegels warf, war ich aus dem Bette und mit der kleinen Emly draußen am Strand und suchte Muscheln.
»Du bist gewiss schon ein vollendeter Seemann«, sagte ich zu Emly. Ich glaubte selbst nicht, was ich sagte, aber ich hielt es für galant, etwas Derartiges zu äußern, und ein schimmerndes Segel dicht neben uns spiegelte sich so hübsch in ihrem hellen Auge, dass mir diese Worte gerade einfielen.
»Nein«, antwortete Emly und schüttelte den Kopf, »ich habe Angst vor dem Meere.«
»Angst?« sagte ich und machte selbst ein kühnes Gesicht und sah mutig auf den mächtigen Ozean hinaus. »Ich nicht!«
»O, es ist sehr grausam«, sagte Emly, »ich habe es sehr grausam gesehen gegen unsere Leute. Ich habe gesehen, wie es ein Schiff, so groß wie unser Haus, in lauter Stücke zerbrach.«
»Das war doch hoffentlich nicht das Schiff, das –«
»– in dem der Vater ertrank?« fragte Emly. »Nein, das nicht. Das hab ich nicht gesehen.«
»Auch ihn nicht?« fragte ich.
Die kleine Emly schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht erinnern.«
Hier lag ein Fall vor wie der meine. Ich erging mich sogleich in Erzählungen, dass auch ich meinen Vater niemals gesehen hätte, und wie meine Mutter und ich stets allein in der größten Zufriedenheit gelebt, die man sich denken könnte, und noch so lebten und immer so leben wollten, und dass meines Vaters Grab auf dem Kirchhof nicht weit von unserm Hause läge, beschattet von einem Baum, unter dessen Zweigen ich an manchem schönen Morgen dem Gesang der Vögel gelauscht hätte.
Aber zwischen Emlys Waisenschaft und meiner bestand doch noch ein kleiner Unterschied. Sie hatte ihre Mutter vor dem Vater verloren, und ihres Vaters Grab kannte niemand. Sie wusste nur, dass er irgendwo in den Tiefen des Meeres ruhte.
»Und dann«, sagte Emly, während sie nach Muscheln und Kieseln ausschaute, »war dein Vater ein Gentleman und deine Mutter eine Lady; mein Vater war nur ein Fischer und meine Mutter eine Fischerstochter und mein Onkel Dan ist ein Fischer.«
»Dan ist Mr. Peggotty, nicht wahr?« fragte ich.
»Onkel Dan – dort –« antwortete Emly und nickte nach dem Schiffe hin.
»Ja, den meine ich. Er muss sehr gut sein, nicht?«
»Gut? – Wenn ich einmal eine Lady werden sollte, schenke ich ihm einen himmelblauen Rock mit diamantnen Knöpfen, Nankinghosen, eine rote Samtweste, einen Federhut, eine große goldne Uhr, eine silberne Pfeife und einen Koffer voll Geld.«
Ich sagte, ich sei überzeugt, dass Mr. Peggotty alle diese Schätze wohl verdiene. Ich muss gestehen, dass es mir schwerfiel, mir ihn in ruhigem Behagen in dem Anzuge vorzustellen, den seine dankbare kleine Nichte ihm zudachte, besonders hatte ich so meine Bedenken wegen des Federhutes, aber ich behielt diese Gedanken für mich.
Die kleine Emly hatte in ihrer Beschäftigung innegehalten und zum Himmel aufgeblickt bei der Aufzählung aller dieser Gegenstände, als wären sie eine Vision. Dann fingen wir wieder an Muscheln und Kieseln zu suchen.
»Du möchtest wohl gern eine Lady sein?« fragte ich.
Emly sah mich an, lachte und nickte, »ja.«
»Das möcht ich wohl gern. Wir würden dann alle vornehme Leute sein. Ich und der Onkel und Ham und Mrs. Gummidge; es wäre uns gleich, wenn es stürmte, – unsertwegen meine ich, wegen der armen Fischer wärs uns nicht gleich, und wir würden ihnen Geld geben, wenn sie zu Schaden kämen.«
Das erschien mir als ein befriedigendes und daher durchaus nicht unwahrscheinliches Bild. Ich drückte meine Freude darüber aus und das ermutigte Emly zu der schüchternen Frage: »Glaubst du jetzt, dass du Angst vor dem Meere hast?«
Die See war in diesem Augenblick zu ruhig, um mir Besorgnis einzuflößen, aber ich bin überzeugt, wenn nur eine mäßig große Welle dahergebraust gekommen wäre, ich hätte mich bei dem schrecklichen Gedanken an Emlys ertrunkene Verwandten sofort davon gemacht. Für alle Fälle sagte ich nein, und fügte hinzu: »Du scheinst dich auch nicht so sehr davor zu fürchten, wie du sagst.« Sie ging so nahe am Rande eines alten hölzernen Hafendamms, dass ich Angst hatte, sie könnte hinunterfallen.
»So fürchte ich mich nicht«, sagte sie. »Aber ich bleibe wach, wenn es stürmt, und denke mit Zittern und Angst an Onkel Dan und Ham, und immer kommt es mir vor, als ob sie um Hilfe riefen. Deshalb möcht ich gern eine Lady sein. Aber so fürcht ich mich nicht. Nicht ein bisschen. Schau mal her.«
Sie rannte von mir weg und lief einen gekerbten Balken entlang, der ohne Geländer ziemlich hoch über das Meer hinausragte.
So deutlich steht der Vorfall noch vor meinem Gedächtnis, dass ich es malen könnte, wäre ich ein Zeichner, wie die kleine Emly ihrem Untergang – so erschien es mir, – mit einem weit auf das Meer hinausgerichteten Blick, den ich nie vergessen habe, entgegeneilte. Ihre leichte, kühne, flatternde kleine Gestalt kehrte um und gelangte wieder glücklich bis zu mir, und bald lachte ich über meine Angst und den Schrei, den ich – in jedem Falle ganz nutzlos, denn es war niemand in der Nähe, – ausgestoßen hatte.
Oft noch später habe ich darüber nachgesonnen, konnte es nicht vielleicht eine von den uns verborgenen Möglichkeiten gewesen sein, dass der plötzlichen Tollheit des Kindes eine Verlockung zur Gefahr, ein unhörbarer Ruf ihres toten Vaters zugrunde lag, der an jenem Tage barmherzig ihr Leben enden wollte?
Es kam einmal eine Zeit, wo ich mich fragte, ob ich damals einen Finger zu ihrer Rettung hätte rühren sollen, wenn sich mir ihr späteres Leben in einem Blick geoffenbart hätte? Es kam einmal eine Zeit, wo ich mir einen Augenblick die Frage vorgelegt habe, würde es nicht besser für die kleine Emly gewesen sein, wenn das Meer sie an diesem Morgen vor meinen Augen verschlungen hätte? –
Wir schlenderten noch eine Weile spazieren und lasen Dinge auf, die uns merkwürdig vorkamen,