David Copperfield. Charles DickensЧитать онлайн книгу.
Anfangs fürchtete ich, er oder seine Schwester würden mich wieder zu unterrichten anfangen, aber ich fand bald, dass meine Besorgnis unbegründet war und ich weiter nichts als Vernachlässigung zu gewärtigen hatte.
Diese Entdeckung verursachte mir damals nicht viel Schmerz. Noch immer ganz betäubt von dem Tod meiner Mutter war mir alles andere recht gleichgültig. Wohl dachte ich mir zuweilen, ob ich nicht zu einem schäbigen mürrischen Mann, der im Dorfe sein Leben in Nichtstun verlungern würde, heranwachsen müsste, wenn ich so gar keinen Unterricht mehr empfinge. Ich weiß noch, ich habe einmal überlegt, ob ich nicht wie der Held eines Romans davonlaufen sollte, um mein Glück zu machen, aber alles das waren Träume am hellichten Tag, die an der Wand meines Zimmers vorüberschwebten und nur die leere Wand zurückließen.
»Peggotty«, sagte ich, gedankenvoll flüsternd, eines Abends, als ich meine Hände am Herdfeuer wärmte, »Mr. Murdstone hat mich noch weniger gern als früher. Er hat mich nie gern gehabt, Peggotty. Aber jetzt möchte er mich am liebsten gar nicht mehr sehen.«
»Vielleicht hat er Kummer«, sagte Peggotty und strich mir die Haare glatt.
»Ich bin gewiss auch voll Trauer, Peggotty«, erwiderte ich, »wenn es nur sein Gram wäre, würde ich weiter gar nicht darüber nachdenken. Aber das ists nicht, o nein, das ists nicht.«
»Woher weißt du denn das?« fragte Peggotty nach einer Pause.
»O, Kummer ist es nicht; jetzt wo er mit seiner Schwester am Kamin sitzt, hat er wohl Kummer. Aber wenn ich hineinginge, Peggotty, würde er sogleich anders werden.«
»Wie denn?« fragte Peggotty.
»Zornig«, antwortete ich und machte unwillkürlich sein Stirnrunzeln nach. »Wenn es nur Gram wäre, würde er mich doch nicht so ansehen. Ich gräme mich auch, aber das macht mich nur freundlicher gegen andere.«
Peggotty sagte nichts mehr darauf, und ich wärmte meine Hände stumm wie sie.
»Davy«, sagte sie endlich.
»Ja, Peggotty.«
»Ich habe alles mögliche versucht, mein liebes Kind, hier in Blunderstone einen passenden Dienst zu bekommen, aber ich konnte keinen finden.«
»Und was gedenkst du zu tun, Peggotty?« und ich sah sie forschend an, »willst du fortgehen und dein Glück anderwärts versuchen?«
»Ich werde wohl nach Yarmouth gehen müssen«, sagte Peggotty.
»Du hättest noch weiter fortgehen und so gut wie verloren für mich sein können«, sagte ich ein wenig erleichtert. »So kann ich dich manchmal besuchen, meine gute, alte Peggotty! Du bist doch dort nicht am Ende der Welt, nicht wahr?«
»Ganz im Gegenteil, so Gott will«, rief Peggotty mit großer Lebhaftigkeit. »Solang du hier bist, mein Herzblatt, komme ich dich jede Woche besuchen. Jede Woche einmal, solange ich lebe.«
Dies Versprechen nahm mir einen Stein vom Herzen. Aber Peggotty fuhr fort. »Schau mal, Davy, ich gehe zuvorderst einmal auf vierzehn Tage zu meinem Bruder auf Besuch, um mich ein bisschen umzusehen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen; da hab ich mir gedacht, da sie dich hier sowieso nicht brauchen können, lassen sie dich vielleicht mit mir gehen?«
Jedenfalls war dieser Plan das einzige, was mich in meiner damaligen Gemütsstimmung irgendwie aufhellen konnte. Der Gedanke, wieder auf diesen ehrlichen Gesichtern einen Willkommensgruß lesen zu können, wieder den Frieden des stillen Sonntagmorgens zu genießen, wenn die Glocken läuten, die Schiffe Schatten gleich aus dem Nebel brechen, wieder Steine ins Wasser werfen zu können, mit der kleinen Emly herumzustreifen, ihr meine Leiden zu erzählen und ein Zaubermittel dagegen in den Muscheln und Kieseln am Strande zu finden, erfüllte mein Herz mit besänftigender Ruhe. Freilich wurde sie schon im nächsten Augenblick von dem Gedanken zerstört, dass Miss Murdstone schwerlich einwilligen werde. Aber noch während wir sprachen, kam Miss Murdstone plötzlich heraus, um etwas aus der Vorratskammer zu holen, und Peggotty brachte die Angelegenheit mit einer Kühnheit, die mich in Erstaunen versetzte, sogleich zur Sprache.
»Der Junge wird dort herumlungern«, sagte Miss Murdstone und spähte in einen Krug mit Essiggurken, »und Nichtstun ist die Wurzel alles Bösen. Aber freilich hier wird er auch nichts tun – und anderwärts auch nicht.«
Peggotty hatte eine heftige Antwort auf der Zunge; aber sie schluckte sie herunter um meinetwillen und schwieg.
»Hm«, meinte Miss Murdstone dann und spähte immer noch in den Essigkrug. »Es ist wichtiger als alles andere, – es ist sogar von außerordentlicher Wichtigkeit, – dass mein Bruder nicht gestört und belästigt wird. Es ist wohl am besten, ich willige ein.«
Ich bedankte mich bei ihr, ohne meine Freude zu verraten, damit sie nicht etwa ihre Erlaubnis zurückzöge, und mir kam das sehr klug vor, als sie mich jetzt wieder mit einem so sauern Gesicht ansah, als hätte sie mit ihren schwarzen Augen den ganzen Inhalt des Essigkrugs ausgesogen. Die Erlaubnis war gegeben und wurde auch nicht zurückgezogen. Und als der Monat um war, standen Peggotty und ich zur Abfahrt bereit.
Mr. Barkis kam ins Haus, um Peggottys Koffer abzuholen. So viel ich weiß, hatte er noch nie die Schwelle der Gartentür überschritten, aber bei dieser Gelegenheit kam er bis ins Haus. Und als er den größten Koffer auf seine Schultern lud und hinausging, warf er mir einen so vielsagenden Blick zu, wie es sein Gesicht überhaupt vermochte.
Peggotty war natürlich sehr betrübt über ihren Abschied von dem Orte, wo sie so lange Jahre mit meiner Mutter und mir zugebracht hatte. Sie war schon in aller Frühe auf dem Kirchhof gewesen, und als sie im Wagen saß, hielt sie sich das Taschentuch vor die Augen.
Solange sie so blieb, gab Mr. Barkis kein Lebenszeichen von sich. Er saß auf seinem gewohnten Platz und in seiner bekannten Haltung wie eine große, ausgestopfte Puppe. Aber als sie das Taschentuch einsteckte und mit mir zu sprechen anfing, nickte er mehrere Male und grinste. Ich hatte nicht den leisesten Begriff, was er damit sagen wollte.
»’s ist ein schöner Tag, Mr. Barkis«, begann ich aus purer Höflichkeit.
»Nicht schlecht«, meinte Mr. Barkis, der gewöhnlich seine Worte sehr abwog und seine Meinung nie offen heraussagte.
»Peggotty hat sich schon wieder ganz erholt, Mr. Barkis«, bemerkte ich.
»So. Hm«, sagte Mr. Barkis.
Nachdem er mit schlauer Miene nachgedacht hatte, sah er Peggotty an und sagte:
»Ists Ihnen schon hübsch behaglich?«