Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
Holmes blickte auf seine Uhr.
»Es ist jetzt Viertel nach zwei«, sagte er. »Ihr Telegramm ist ungefähr um ein Uhr aufgegeben worden. Aber ein Blick auf Ihren Aufzug genügt, um zu sehen, daß Ihre Verstörung vom Zeitpunkt ihres Erwachens herrührt.«
Unser Klient fuhr sich mit der Hand über das ungekämmte Haar und betastete sein unrasiertes Kinn.
»Sie haben recht, Mr. Holmes. Ich habe keinen Gedanken an meine Toilette gewendet. Ich wollte nur so schnell wie möglich hinaus aus einem solchen Haus. Aber dann bin ich herumgerannt und habe Erkundigungen eingezogen, bevor ich zu Ihnen gekommen bin. Ich war beim Häusermakler, wissen Sie, und dort hat man mir gesagt, daß Mr. Garcias Miete ordnungsgemäß bezahlt sei und daß alles seine Richtigkeit habe mit Wisteria Lodge.«
»Nur gemach, Sir«, sagte Holmes lachend. »Sie sind wie mein Freund Dr. Watson, der die schlechte Angewohnheit hat, seine Geschichten am verkehrten Ende anzufangen. Bitte ordnen Sie Ihre Gedanken und teilen Sie mir dann schön der Reihe nach mit, welcher Art genau die Ereignisse waren, welche Sie dazu veranlaßt haben, sich zerzaust und ungekämmt, die Galastiefel und die Weste schief geknöpft, auf die Suche nach Rat und Beistand zu begeben.«
Unser Klient blickte mit zerknirschter Miene an seinem unkonventionellen Äußeren hinab.
»Ich muß einen äußerst unvorteilhaften Eindruck machen, Mr. Holmes, und ich wüßte nicht, daß mir zeit meines Lebens dergleichen schon passiert wäre. Aber ich will Ihnen die ganze sonderbare Geschichte erzählen, und danach werden Sie bestimmt zugeben, daß ich reichlich entschuldigt bin.«
Indes, seine Erzählung wurde noch im Keim erstickt. Draußen rührte sich etwas, und dann öffnete Mrs. Hudson die Tür, um zwei stämmige, beamtenhaft aussehende Individuen einzulassen, in deren einem wir Inspektor Gregson erkannten, den mutigen, tatkräftigen und – in seinen Grenzen – auch tüchtigen Polizeibeamten von Scotland Yard. Er schüttelte Holmes die Hand und stellte seinen Begleiter als Inspektor Baynes von der Constabulary3 der Grafschaft Surrey vor.
»Wir sind gemeinsam auf der Jagd, Mr. Holmes, und unsere Fährte führt in diese Richtung.« Er richtete seinen Bulldoggenblick auf unseren Besucher. »Sind Sie Mr. John Scott Eccles vom Popham House in Lee?«
»Der bin ich.«
»Wir sind schon den ganzen Vormittag hinter Ihnen her.«
»Zweifellos haben Sie ihn aufgrund des Telegramms aufgespürt«, sagte Holmes.
»Ganz recht, Mr. Holmes. Wir haben im Postamt Charing Cross seine Witterung aufgenommen und sind dann hierhergekommen.«
»Aber weshalb sind Sie hinter mir her? Was wollen Sie von mir?«
»Wir wünschen eine Aussage von Ihnen, Mr. Scott Eccles, die Ereignisse betreffend, die gestern nacht zum Tode von Mr. Aloysius Garcia, wohnhaft auf Wisteria Lodge bei Esher, geführt haben.«
Unser Besucher hatte sich mit starrem Blick in seinem Stuhl aufgerichtet, und aus seinem fassungslosen Gesicht war jede Spur von Farbe gewichen.
»Tot? Haben Sie gesagt, er sei tot?«
»Ja, Sir, er ist tot.«
»Aber wie? Ein Unfall?«
»Mord – so sicher wie nur je etwas auf Erden.«
»Allmächtiger Gott! Das ist ja furchtbar! Aber Sie wollen doch nicht – Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie mich verdächtigen?«
»In einer Tasche des Toten hat man einen Brief von Ihnen gefunden, dem wir entnehmen, daß Sie vorhatten, gestern in seinem Haus zu übernachten.«
»Das habe ich auch getan.«
»Ach, haben Sie das, tatsächlich?«
Und schon wurde das amtliche Notizbuch gezückt.
»Warten Sie, Gregson«, sagte Sherlock Holmes. »Alles, was Sie wollen, ist doch eine schlichte Aussage, nicht wahr?«
»Und es ist meine Pflicht, Mr. Scott Eccles darauf aufmerksam zu machen, daß sie gegen ihn verwendet werden kann.«
»Mr. Eccles wollte uns gerade von dieser Sache berichten, als Sie ins Zimmer traten. Watson, ich glaube, ein Brandy mit Soda könnte ihm nichts schaden. Also, Sir, ich schlage vor, daß Sie von diesem Zuwachs an Publikum gar keine Notiz nehmen und Ihre Geschichte genau so vortragen, wie Sie es getan hätten, wenn Sie nie unterbrochen worden wären.«
Unser Besucher hatte seinen Brandy hinuntergestürzt, und die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Nach einem argwöhnischen Seitenblick auf das Notizbuch des Inspektors sprudelte er seine ungewöhnliche Aussage hervor.
»Ich bin Junggeselle«, begann er, »und da ich recht gesellig bin, pflege ich einen großen Freundeskreis. Dazu zählt auch die Familie eines ehemaligen Bierbrauers namens Melville, die in Albemarle Mansion in Kensington wohnt. An ihrer Tafel lernte ich vor einigen Wochen einen jungen Mann namens Garcia kennen. Soweit ich wußte, war er spanischer Abstammung und hatte irgend etwas mit der Botschaft zu tun. Er sprach perfekt Englisch, hatte angenehme Umgangsformen und war einer der bestaussehenden Männer, die ich mein Lebtag gesehen habe.
Irgendwie kam es, daß wir rasch Freundschaft miteinander schlössen, dieser junge Bursche und ich. Er schien von Anfang an Gefallen an mir zu finden, und gleich am Tag nach unserer ersten Begegnung kam er mich schon in Lee besuchen. Eins gab das andere, und zu guter Letzt lud er mich ein, ein paar Tage in Wisteria Lodge, seinem Haus, das zwischen Esher und Oxshott liegt, zu verbringen. Gestern abend fuhr ich also nach Esher, um dieser Einladung Folge zu leisten.
Er hatte mir seinen Haushalt schon vorher geschildert. Er lebe mit einem getreuen Diener zusammen, einem Landsmann, der für all seine Bedürfnisse sorge. Dieser Bursche spreche Englisch und führe ihm den Haushalt. Außerdem habe er einen wundervollen Koch – ein Halbblut, das er von einer seiner Reisen zurückgebracht habe –, der ein ausgezeichnetes Mahl zu bereiten verstehe. Ich erinnere mich noch an seine Bemerkung, was für ein sonderbarer Haushalt dies doch sei, so mitten im Herzen von Surrey, und ich gab ihm recht, nicht ahnend, daß dieser Haushalt sich noch als weit sonderbarer erweisen sollte, als ich je erwartet hatte.
Ich fuhr also dorthin. Das Haus, etwa zwei Meilen südlich von Esher, ist groß und liegt etwas abseits der Straße, mit einer geschwungenen, von hohen, immergrünen Hecken gesäumten Einfahrt. Es ist halb verfallen und in einem Zustand unglaublicher Verwahrlosung. Als mein Einspänner auf der grasüberwachsenen Einfahrt vor der fleckigen, verwitterten Eingangstür anhielt, kamen mir Zweifel, ob es klug war, einen Mann zu besuchen, den ich nur so oberflächlich kannte. Er selbst öffnete mir jedoch die Tür und begrüßte mich mit allen Anzeichen großer Herzlichkeit. Dann übergab er mich der Obhut seines Dieners, eines dunkelhäutigen, melancholischen Menschen, der mir meine Tasche abnahm und den Weg zu meinem Schlafgemach wies. Von dem ganzen Ort ging etwas Bedrückendes aus. Unser Abendessen verlief als ein tête-à-tête, und wiewohl mein Gastgeber sich alle Mühe gab, mich zu unterhalten, schien es, als ob seine Gedanken ständig abschweiften, und was er sagte, war so unklar und verworren, daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Er trommelte unablässig mit den Fingern auf den Tisch, kaute an seinen Nägeln und ließ andere Zeichen nervöser Ungeduld erkennen. Das Essen selbst wurde weder gut serviert, noch war es gut zubereitet, und die düstere Präsenz des schweigsamen Dieners trug auch nicht gerade zu unserer Aufheiterung bei. Ich versichere Ihnen, ich habe mich im Laufe dieses Abends manches Mal nach einer Ausrede gesehnt, die mir erlaubt hätte, nach Lee zurückzukehren.
Da fällt mir etwas ein, was im Zusammenhang mit der Sache, in der Sie beide, Gentlemen, ermitteln, von Wichtigkeit sein könnte, wenn ich mir auch, als es passiert ist, nichts weiter dabei gedacht habe. Gegen Ende des Abendessens brachte der Diener eine Nachricht, nach deren Lektüre mein Gastgeber, wie mir schien, noch zerstreuter und seltsamer war denn zuvor. Er versuchte jetzt gar nicht mehr, den Schein einer Konversation aufrechtzuerhalten, sondern saß, eine Zigarette nach der anderen rauchend, ganz in seine Gedanken versunken da, erwähnte jedoch mit keinem