Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
offenbar dem Koch als Schlafgelegenheit diente. Auf dem Tisch stapelten sich Schüsseln mit Speiseresten und schmutzige Teller, die Überbleibsel des Mahles vom vorigen Abend.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Baynes. »Was halten Sie davon?«
Er hielt seine Kerze hoch und beleuchtete einen merkwürdigen Gegenstand, der hinten auf der Anrichte stand und so runzelig, verdorrt und verschrumpelt war, daß sich kaum feststellen ließ, was es einmal gewesen sein mochte. Es ließ sich bloß sagen, daß es schwarz und lederig war und eine gewisse Ähnlichkeit mit einer zwergenhaften menschlichen Gestalt aufwies. Bei näherer Betrachtung hielt ich es zuerst für einen mumifizierten Negersäugling, dann schien es mir mehr nach einem uralten, verhutzelten Affen auszusehen. Und ich blieb auch im Zweifel darüber, ob es menschlicher oder tierischer Natur war. Um seine Mitte war eine zweireihige Muschelkette geschlungen.
»Sehr interessant – wirklich sehr interessant!« murmelte Holmes, während er das unheimliche Relikt eingehend betrachtete.
»Sonst noch etwas?«
Wortlos ging Baynes zum Spülstein voran und hielt seine Kerze darüber. Darin lagen in wildem Durcheinander Rumpf und Glieder eines großen, weißen Vogels, den man mitsamt den Federn gewaltsam in Stücke gerissen hatte. Holmes deutete auf die Kehllappen an dem abgetrennten Kopf.
»Ein weißer Hahn«, sagte er. »Höchst interessant! Das ist wirklich ein sehr sonderbarer Fall.«
Sein schauerlichstes Schaustück hatte Mr. Baynes indes für den Schluß aufgehoben. Unter dem Spülstein zog er einen Zinkeimer hervor, der eine beträchtliche Menge Blut enthielt. Dann nahm er vom Tisch eine Platte, auf der ein Haufen verkohlter kleiner Knochenstücke lag.
»Etwas ist hier getötet und etwas ist hier verbrannt worden. Das hier haben wir alles aus dem Feuer gescharrt. Wir hatten heute früh einen Arzt hier. Er sagt, es sei nicht menschlicher Herkunft.«
Holmes lächelte und rieb sich die Hände.
»Inspektor, ich muß Ihnen wirklich gratulieren zu der Art, wie Sie einen so außergewöhnlichen und aufschlußreichen Fall angehen. Ihre Fähigkeiten – wenn ich dies sagen darf, ohne Ihnen zu nahe zu treten – scheinen Ihre Position bei weitem zu überragen.«
Inspektor Baynes' kleine Äuglein funkelten vor Freude.
»Sie haben recht, Mr. Holmes; wir versumpfen hier in der Provinz. Ein Fall wie dieser ist schon eine Chance, und ich hoffe, daß ich sie nutzen kann. Was halten Sie von diesen Knochen?«
»Ein Lamm, würde ich sagen, oder ein Zicklein.«
»Und was ist mit dem weißen Hahn?«
»Merkwürdig, Mr. Baynes, höchst merkwürdig, wenn nicht geradezu einzigartig.«
»Ja, Sir, in diesem Haus müssen sich sehr seltsame Leute mit sehr seltsamen Gewohnheiten eingenistet haben. Einer davon ist tot. Sind seine Gefährten ihm nachgeschlichen und haben ihn umgebracht? Wenn ja, so sollten sie uns nicht entwischen, denn alle Häfen werden überwacht. Ich persönlich sehe die Sache allerdings anders. Weiß Gott, Sir, ich sehe diese Sache ganz anders.«
»Sie haben also eine Theorie?«
»Das habe ich, und ich werde sie auf eigene Faust anwenden, Mr. Holmes. Das bin ich mir schuldig. Sie haben einen bekannten Namen, ich muß mir erst noch einen machen. Ich möchte hinterher gern sagen können, ich habe den Fall ohne Ihre Hilfe gelöst.«
Holmes lachte gutmütig.
»Schon gut, Inspektor«, sagte er. »Gehen Sie Ihren Weg, und ich gehe meinen Weg. Meine Resultate stehen freilich jederzeit voll und ganz zu Ihrer Verfügung, falls Sie darauf zurückgreifen wollen. Ich denke, ich habe nun alles gesehen, was ich in diesem Hause sehen wollte; woanders kann ich meine Zeit wohl nutzbringender verwenden. Au revoir, und viel Glück!«
Aus einer Vielzahl unscheinbarer Anzeichen, die jedem anderen als mir wohl entgangen wären, schloß ich, daß Holmes auf einer heißen Spur war. Mochte er auch einem zufälligen Beobachter so teilnahmslos wie immer erscheinen, verrieten mir seine heller gewordenen Augen und die energischeren Bewegungen jedoch eine verhaltene Ungeduld und eine gewisse Angespanntheit, die keinen Zweifel daran ließen, daß er sein Wild aufgestöbert hatte7. Er sagte nichts, das war so seine Art; meine war es, daß ich keine Fragen stellte. Ich war es zufrieden, an der Hatz teilzunehmen und meinen bescheidenen Beitrag zu leisten, wenn es galt, das Wild zu stellen, doch ich vermied es, dieses angespannt arbeitende Gehirn durch unnötige Unterbrechungen zu stören. Zu gegebener Zeit würde ich alles erfahren.
Ich wartete also, doch zu meiner ständig wachsenden Enttäuschung wartete ich vergeblich. Ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne daß mein Freund irgendwelche Schritte unternommen hätte. Einen Vormittag verbrachte er in der Stadt, wo er, wie ich beiläufig erfuhr, das British Museum besucht hatte. Von diesem einen Ausflug abgesehen, verbrachte er seine Tage mit langen, meist einsamen Spaziergängen, oder er plauderte mit einigen Klatschmäulern aus dem Dorf, mit denen er Umgang pflegte.
»Ich bin überzeugt, Watson, eine Woche auf dem Lande wird von unschätzbarem Wert für Sie sein«, sagte er. »Es ist so wohltuend, mal wieder die ersten grünen Triebe an den Hecken und die Kätzchen an den Haselsträuchern zu sehen. Mit einem Spaten, einer Botanisierbüchse und einem Pflanzenbestimmungsbuch versehen, kann man hier lehrreiche Tage verbringen.« Er selbst streifte tatsächlich solchermaßen ausgerüstet durch die Gegend; die Ausbeute an Pflanzen, die er des abends nach Hause brachte, nahm sich indes recht kläglich aus.
Auf unseren Streifzügen begegneten wir hin und wieder auch Inspektor Baynes, dessen dickes, rotes Gesicht sich zu einem Lächeln verzog und dessen Äuglein aufleuchteten, wenn er meinen Gefährten begrüßte. Er ließ wenig über den Fall verlauten, aber diesem wenigen konnte man entnehmen, daß auch er mit dem Gang der Dinge keineswegs unzufrieden war. Dennoch muß ich gestehen, daß ich ein wenig überrascht war, als ich fünf Tage nach dem Verbrechen meine Morgenzeitung aufschlug und da in großen Lettern geschrieben fand:
DAS RÄTSEL VON OXSHOTT
LÖSUNG IN SICHT
MUTMASSLICHER MÖRDER GEFASST
Holmes fuhr wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf, als ich ihm diese Schlagzeile vorlas.
»Beim Zeus!« rief er aus. »Soll das heißen, daß Baynes ihn erwischt hat?«
»Allem Anschein nach«, erwiderte ich, indem ich die folgende Meldung überflog:
Großes Aufsehen erregte in Esher und Umgebung die Nachricht, daß gestern spät abends eine Verhaftung in Zusammenhang mit dem Mord von Oxshott erfolgt sei. Unsere Leser werden sich daran erinnern, daß vor einigen Tagen Mr. Garcia von Wisteria Lodge tot auf der Allmende von Oxshott aufgefunden wurde, wobei sein Leichnam Spuren brutalster Gewaltanwendung aufwies, und daß in derselben Nacht sein Diener und sein Koch die Flucht ergriffen, was darauf hinzudeuten schien, daß sie an dem Verbrechen beteiligt waren. Es wurden Vermutungen laut, die jedoch nie bewiesen werden konnten, der Verstorbene habe möglicherweise Wertgegenstände in seinem Hause verwahrt, deren Entwendung das Motiv für das Verbrechen gewesen sein könnte. Inspektor Baynes, in dessen Händen der Fall liegt, hat nichts unversucht gelassen, das Versteck der Flüchtigen ausfindig zu machen, wobei er sich von der wohlbegründeten Annahme leiten ließ, daß sie nicht sehr weit geflohen waren, sondern sich in irgendeinem für diesen Fall vorbereiteten Schlupfwinkel versteckt hielten. Die Entdeckung der beiden war indes von Anfang an abzusehen, da der Koch nach Aussagen von ein oder zwei Handelsreisenden, die ihn einmal zufällig durchs Fenster gesehen hatten ein Mann von äußerst auffallender Erscheinung ist – es handelt sich um einen riesigen, monströs aussehenden Mulatten mit einem gelblichen Gesicht von stark negroidem Einschlag. Dieser Mann wurde nach dem Verbrechen noch einmal gesehen, da er die Unverfrorenheit hatte, noch an demselben Abend wieder in Wisteria Lodge aufzutauchen, wo er von Constable Walters entdeckt und verfolgt wurde. Inspektor Baynes, der davon ausging, daß dieser Besuch nicht ohne eine bestimmte Absicht erfolgt war und sich deshalb vermutlich wiederholen würde, ließ das Haus sogleich räumen, legte jedoch ein paar seiner Leute im Gebüsch in den